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The book Wirtschaftswunder Schweiz, Ursprung und Zukunft eines Erfolgsmodells edited by R. James Breiding and Gerhard Schwarz is reviewed.
AR. James Breiding und Gerhard Schwarz (2010): Wirtschaftswunder Schweiz, Ursprung und Zukunft eines Erfolgsmodells Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich, 429 Seiten (hardback) ISBN 978-3-03823-645-0; CHF 58.00 / EUR 45.00
Welche Kräfte treiben die wirtschaftliche Entwicklung an, und warumsindmanche Länder darin so viel erfolgreicher als andere? Die Quelle der Entwicklung sind letztlich die Innovationen. Sie ermöglichen, bisherige Produkte mit weniger Zeit und Ressourcen herzustellen oder auch neue Techniken und Dienstleistungen zu entwickeln, die ganz neue Bedürfnisse befriedigen.Was bestimmt dann aber diese Innovationen, auf denen derWohlstand namentlich der Schweiz gründet? R. JAMES BREIDING und GERHARD SCHWARZ versuchen, dieser zentralen Frage näher zu kommen.Zusammen mit einem breitenTeam, das jeweils die Grundlage der einzelnen Branchenkapitel legte, legen sie eine beeindruckende Schilderung Schweizer Erfinder- und Unternehmertums vor und illustrieren beispielhaft denWagemut von Unternehmerpersönlichkeiten und Firmen.
Im einleitenden Kapitel wird die Schweiz unter Zuhilfenahme zentraler makroökonomischer Indikatoren wie Pro-Kopf-Einkommen,Verteilung,Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung mit wichtigen Industrieländern verglichen sowie internationale Unterschiede in der Firmen- und Innovationsstruktur aufgezeigt. Interessanterweise hat die Schweiz die höchste Dichte von Grossfirmen und die grössteAnzahl Patente pro Kopf,womit sie auch ähnlich grosse Länder weit hinter sich lässt. Der Hauptteil des Buches ist dann der Geschichte der einzelnen Branchen gewidmet:Die ersten Kapitel behandeln die «Klischee»- Branchen vomTourismus über die Nahrungsmittel- (und Schokoladen-)industrie und die Uhrenbranche bis hin zumSchweizer Bankenstandort.Danach analysieren dieAutoren die Versicherungen, die Textil-,Maschinen- und chemische Industrie, bevor sich der Blick auf dieMedizinaltechnik, (Transit-)Handel und Logistik wendet.Vielerorts werden die Interdependenzen undWissensspillover zwischen den Branchen klar, so z.B. dieTextilindustrie als Problemfundus für die chemischen oderMaschineindustrie.Das folgende Bau- und Ingenieurkapitel zeugt davon, dass in einem Land mit komplizierter Topografie die Infrastruktur eine wichtige Rolle spielt. Die «Kulturindustrie» Architektur und Kunst sowie Informationstechnologie schliessen den breiten Reigen von innovativen Branchen ab.Das finale Kapitel und das gelungene Vorwort von HAROLD JAMES,Wirtschaftshistoriker der Princeton University, gehen schliesslich den zugrundliegenden Ursachen des Schweizer Wirtschaftswunders nach.
Das Buch liest sich mit grossem Gewinn.Neben chronologischen Schilderung werden beispielhaft zentrale Unternehmerpersönlichkeiten und Firmen beleuchtet, was die Entstehungsgründe der einzelnen Wirtschaftszweige plastisch macht. Dieser Ansatz zieht sich durch das ganzeWerk,was eine kurzweilige Lektüre der flüssig geschriebenen Kapitel ermöglicht.
Die Fallstudien überzeugen gerade auch im Spiel mit bzw. der Widerlegung von alten Vorurteilen. So erfährt man, dass der Export von Schokolade gar keine so grosse Rolle mehr spielt.Einen weit wichtigeren Part spielt die Schweiz in der Nahrungsmittelindustrie als ganzes und hier vor allem durch den weltgrössten Nahrungsmittelkonzern Nestlé. Ironischerweise aber ist die Schweiz, von der Öffentlichkeit weniger beachtet, seit 1996 Heimat oder besser Hauptsitz des grössten Schokoladeproduzenten Barry Callebaut geworden. Dieser Zuzug ist aber weniger der Schokoladentradition geschuldet, sondern den neuen Vorzügen der Schweiz für sogenannte Head Quarter-Dienstleistungen (Verlegung des Hauptsitzes in die CH). Dieses Beispiel illustriert schön, wie sich die komparativen Vorteile ständig verschieben und bisher weniger beachtete Felder neue Erfolgsfaktoren werden können.
Trotz der Vielfalt der einzelnen Branchen versuchen dieAutoren, und das ist eine weitere Stärke des Buches, immer auch die Gemeinsamkeiten der einzelnen (Erfolgs-)Geschichten zu ergründen.Wie HAROLD JAMES betont, ist die Offenheit der Schweiz zentral, gestern und heute.Viele bekannte Grossfirmen wurden von Einwanderern gegründet, wenn wir z.B. an Henri Nestlé, Julius Maggi oder Charles Brown (BBC, heute ABB) denken. Bekannt ist, dass die Einwanderung derHugenotten zumAufbau derUhrenindustrie nachhaltig beitrug.
Lobenswert ist auch, dass der Fokus nicht nur auf der Industrie sondern auch auf den Dienstleistungen liegt.Letztere fallen gerne bei ähnlichenAnalysen unter denTisch, da sie oberflächlich weniger fassbar sind; von der Natur der Sache her steht ja kein physisches Produkt am Ende des Produktionsprozesses. Aber wie wir aus den Normabläufen des Strukturwandels wissen, hat sich in der Wirtschaftsentwicklung die Beschäftigung von Landwirtschaft über die Industrie in den Dienstleistungssektor verlagert.Das Buch ist gerade deshalb so wertvoll,weil sie derWertschöpfungskraft wichtiger Dienstleistungsbranchen (Banken,Versicherungen,Transporte undHandel) eigene Kapitel widmet:Branchen, die für den Wohlstand der Schweiz eine zunehmend wichtigere Rolle einnehmen. Hier sind nicht nur die oben erwähnten Head Quarter-Dienstleistungen relevant, seit einigen Jahrenmacht derTransithandel einen immer grösserenAnteil des Ertragsbilanzüberschusses aus.
Ein Nachteil desAnsatzes, die Geschichte vor allem anhand von herausragenden Einzelpersonen und -firmen zu erzählen, besteht darin, dass dieses Buch nicht die genauen wirtschaftshistorischen und gesellschaftlichen Gründe erörtern kann, warum sich z.B. die Textilindustrie so früh in der Schweiz entwickelte. Dies räumen die Autoren auch selber ein, und der exemplarische Ansatz ist ja gerade eine Innovation dieses Buches.Was ich dennoch ein wenig vermisst habe, ist eine international vergleichende Perspektive.Ein solche hätte noch mehr Einblick in die Hintergründe des SchweizerWirtschaftswunders geben können:Wenn man die komparativen Vorteile der Schweiz genauer ergründen will, kommt man nicht darum herum, die Branchen international zu vergleichen. Es gibt zwar einige erhellendeVergleiche der internationalenAusrichtungmit grossenOECD-Ländern, allerdings wird hier die Offenheit der Schweiz überzeichnet, da diese Länder naturgemäss einen viel grösseren Heimmarkt besitzen. Interessant wären zusätzliche Vergleiche mit ähnlich grossen Ländern.
Die wichtige Hauptbotschaft, die man aus der Lektüre ziehen kann, ist, dass eine kleine Grösse oder gar Zersplitterung kein Nachteil seinmuss. ImGegenteil:DerWettbewerb unter den Kantonen hat einer übermässigen staatlichen Regulierung stets Einhalt geboten und dazu geführt, dass die innovativen Unternehmer stets gute Rahmenbedingungen vorfanden. Zweitens besteht in einer kleinen offenen Volkswirtschaft, die sich in wenigen Wirtschaftszweigen spezialisiert, stets ein Klumpenrisiko. Denken wir nur an die jüngste Bankenkrise oder die Uhrenkrise der 1970er Jahre.Wieviel schlimmer aber wären diese Krisen ausgefallen, wenn irgendein zentraler Masterplan der Schweiz eine Fokussierung auf nur wenige Industrien aufgezwungen hätte? Der Föderalismus hat Raum für unterschiedliche Lösungen geschaffen und ermöglicht, dass sich die einzelnen Regionen in ver- schiedenen Branchen spezialisieren konnten.Die Breite dieser Innovationen aufgezeigt zu haben, ist das Hauptverdienst dieses Buches.
Reto Föllmi
University of St.Gallen
Copyright Hochschule St. Gallen für Wirstchafts- und Socialwissenschaften Jun 2011