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1. Einleitung
Zu Beginn der 1780er Jahre spaltete die geplante Einführung eines neu konzipierten Gesangbuchs die Berliner Bevölkerung in Gegner und Befürworter. Der Prozess der gesellschaftlichen Meinungsbildung wurde zusätzlich durch eine publizistische Debatte angeheizt,1 in deren Verlauf der Kampf um die öffentliche Meinung mit harten rhetorischen Bandagen ausgetragen wurde. In diesem Kontext ergriffauch der bedeutende Aufklärungstheologe und Propst der Berliner Nikolai- und Marienkirche, Johann Joachim Spalding, die Gelegenheit, mit einer Predigt über sachgerechte Erbauung für dieses neue Gesangbuch2 zu werben. Denn Spalding hatte zusammen mit seinen Berliner Pfarrerkollegen Johann Samuel Diterich und Wilhelm Abraham Teller das neue Gesangbuch konzipiert und herausgegeben.
Die Analyse dieses Gesangbuchstreits, in dessen Entstehung und Verlauf zunächst allgemein eingeführt wird (2), kann zum einen als ein Beitrag zum präziseren Verständnis der theologischen Debattenkultur um 1780 dienen. Zum andern wird anhand der Auseinandersetzung um das Berliner Gesangbuch, die sich mithilfe der Analyse dreier Schriften historisch rekonstruieren lässt (3 - 5), exemplarisch gezeigt, welche Interessenskonflikte zwischen einer theologischen Elite und einem beträchtlichen Teil der Berliner Bevölkerung existierten und wie diese einen produktiven Dialog obstruierten. Die daraus resultierenden Schlussfolgerungen werden am Ende zusammengefasst (6).
2. Der Berliner Gesangbuchstreit - eine Einführung3
Über zwei Generationen lang war in Berlin4 das nach seinem Herausgeber Johann Porst5 benannte Porstsche Gesangbuch in vielfachem Gebrauch.6 Nachhaltig hatte es andere Gesangbücher verdrängt7 und besaß seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Berlin eine Vorrangstellung. 1765 hatte dann J.S. Diterich8 seine "Lieder für den öffentlichen Gottesdienst" herausgegeben, die allerdings in der Folge nur als ein Anhang zum Porstschen Gesangbuch in einigen Kirchspielen verwendet wurden. 15 Jahre später legten dann in einer Gemeinschaftsarbeit J.S. Diterich, J.J. Spalding9 und W.A. Teller10 ihr "Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Königlich Preußischen Landen" vor, das nach seinem Verleger August Mylius, der in der Berliner Brüderstraße ansässig war, alsbald als das Myliussche Gesangbuch bezeichnet wurde. Anstelle der über 900 Lieder des Porstschen Gesangbuchs enthielt dieses nur noch knapp die Hälfte und war in zwei Hauptabteilungen, "Lob Gottes" sowie "Bitten zu Gott", unterteilt.11 Der Liederbestand setzte sich erstens aus Liedern des Porstschen Gesangbuchs, die zum Teil überarbeitet worden waren, zweitens aus Liedern von zeitgenössischen Autoren und drittens aus Liedern, die Diterich, Spalding und Teller selbst gedichtet hatten,12 zusammen. Teilweise ließen die Herausgeber dabei traditionelle Liedanfänge in abgeänderte...