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Anlässlich der Überreichung des Hegel-Preises im Jahre 1973 warf Jürgen Habermas die Frage auf: Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden? Es ist nicht zu leugnen, dass aufgrund der hohen Komplexität moderner Gesellschaften und der zunehmenden Aufweichung identitätsstiftender Institutionen wie Familie, Staat oder Nation die Herausbildung einer kollektiven Identität zu einem Problem geworden ist, dessen Lösung nicht nur von theoretischer Dringlichkeit ist. Bereits Hegel konstatierte für seine Zeit eine unumkehrbare Individualisierung der Gesellschaft mit einhergehender Entfremdung des Individuums von kollektiven Identitätsformen. Die auslösenden Faktoren dieser Tendenz sind mannigfaltig in der Geschichte zu finden: das Christentum (der Pro - testantismus), die Moralphilosophie Kants, und in der Schrift über die Verfassung Deutschlands (1802) siedelt Hegel den Grund für die starke Ausprägung der individuellen Freiheit gar im Wesen des Deutschen, mit Montesquieu in den Wäldern Germaniens, an.
»Deutschland ist kein Staat mehr« lautet die refrainartig intonierte Formel dieser Schrift, die sich aufgrund der Partikularisierung der deutschen Reichsstände kurz vor dem endgültigen Niedergang des römisch - deutschen Reiches auf die zaghafte Suche nach einer »neuen« kollektiven Identität begibt. Später in seinen Berliner Grundlinien der Philosophie des Rechts wird Hegel der Partikularität der gesellschaftlichen Eigeninteressen einen Platz innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft zuweisen, die sich jedoch im Rahmen eines souveränen Staats und in Unterordnung unter diesen befindet. Indes der Zweifel ist bereits bei Hegel anwesend, ob nicht doch ein unbändiges Eigenleben der Eigeninteressen die staatliche Einheit zum Bersten bringen wird, wie wir es im Zeitalter der Globalisierung und des weltweiten Wirtschaftssystems ständig vor Augen geführt bekommen. Die nationale Politik steht ohnmächtig vor dem globalen Geschehen; und der einzelne Mensch kann sich weder mit dem einen noch mit dem ande - ren identifizieren.
Systemtheoretiker wie Niklas Luhmann ziehen daraus die Konsequenz, auf die Idee einer kollektiven Identität, d. h. auf soziale Integration als notwendigen Bestandteil einer funktionierenden Gesellschaft gänzlich zu verzichten: Das System funktioniert nach eigenem Mechanismus; soziale Probleme verlangen systemische Lösungsstrategien und nicht einen Rekurs auf das Individuum. Das System und nicht (mehr) der Mensch bestimmt die Perspektive. Habermas deutet diese Beschreibung treffend: »Damit wandert die Systemrealität der Gesellschaft aus der Intersubjekti - vität der von vergesellschafteten Individuen bewohnten Lebenswelt gleichsam aus. Die Individuen gehören nur mehr zur Umwelt ihres sozialen Systems«.1 Angesichts der starken Objektivität der Gesellschaft wird das...