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Der Autor schreibt über das Urteil mit Bezug auf die erste Triade (99): "diese Sätze blieben vom Urteil als identischer aber einseitiger Beziehung von Sub- jekt und Prädikat ,unverbunden', das ,Nichtidentische' des Subjekts und des Prä- dikats falle ebenso weg wie die Beziehung zwischen dem ,Identischen' und dem ,Nicht-identischem'." Hegels Bestimmungstheorie weise deshalb der Progression der Bestimmungen eine homo- gene Struktur zu (161 f.). Erst das System der Phi- losophie könne jedem Thema der Reflexion die ihm gebührende Stelle zuweisen. Nur das System der unthematischen Prinzipien qua Handlungsarten ist vollstän- dig und geschlossen, das reflexive System der Philosophie und dessen gedachte Prinzipien sind laut Fichte nicht nur offen, sondern prinzipiell fallibel.1 Fichte stellt sich nun in der Grundlage der Wissenschaftslehre von 1794/95 die Frage, was unter dem System der un thematischen Prinzipien zu verstehen sei, bzw. wie dieses der Reflexion zugänglich sein könne.
Christian Krijnen: Philosophie als System. Prinzipientheoretische Untersuchun- gen zum Systemgedanken bei Hegel, im Neukantianismus und in der Gegen- wartsphilosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008. 438 Seiten. ISBN 978-3-8260-1675-2.
Christian Krijnens Monographie verschafft dem Systemgedanken der Philoso- phie wieder die gebührende Würde. In erster Linie stellt sich das Buch als eine Konfrontation der "Systemreflexionen" Hegels mit ähnlich gelagerten Reflexio- nen Rickerts dar. Garniert wird es in zweiter Linie mit einer grundlegenden Diskussion der Frage, wie sich Hegels Systemgedanke zur den Ansätzen der Neu- kantianer verhalte. Insbesondere wird dem Autor aber auch das Verhältnis des philosophischen Systemgedankens zu den zeitgenössischen Ansätzen von Hans Wagner und Werner Flach zum Thema.
Zunächst diskutiert Krijnen das Problem des Anfangs bei Hegel und Rickert (51-74). Hinter der prima facie eher exegetisch situierten Analyse steckt jedoch als Kern die Frage nach der Möglichkeit der Letztbegründung. Es sei Hegel und dem Neukantianismus um die Letztbegründung eines jeglichen objektiven gegen- ständlichen Sinns gegangen (53).
Dankenswerterweise präzisiert der Autor in diesem Zusammenhang den genauen und einzig zulässigen Sinn philosophischer Letztbegründung. Eine recht verstandene Letztbegründungsreflexion geht mitnichten von irgendeinem schlich- ten empirischen Faktum aus, sondern vielmehr vom exklusiven Faktum der Gel- tungsprätention (70). Mit Blick auf Hegel führt diese zutreffende Einsicht Krijnens zur These, der Progress der Begriffe im Gang der "Logik" dürfe sein Ziel keineswegs antizipieren (82). All diese Interpretationen des Autors münden kon- sequenterweise in eine Analyse des Anfangs der Hegel'schen Logik ein - genauer gesagt, in eine Analyse des Kapitels " Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden". Hier unterscheidet Krijnen zunächst zwischen realem Anfang einerseits und logischem Anfang andererseits (86). Nur der logische Anfang könne als unmittelbar und unvermittelt gefasst werden, der reale Anfang dagegen müsse stets als vermittelt aufgefasst werden. Der logische Anfang wiederum sei alterna- tiv zu unterscheiden in einen gnoseologischen und einen ontologischen Anfang. Krijnen macht hier geltend, dass der ontologische Anfang sowohl nach der Auf- fassung Hegels als auch nach der Auffassung Rickerts dem gnoseologischen An- fang nachgeordnet sei - und zwar in der Weise, dass der gnoseologische Anfang den ontologischen allererst fundiere. Natürlich wird dem Autor auch das Verhält- nis von "Phänomenologie" und "Wissenschaft der Logik" hier zum Problem. Bekanntlich beansprucht Hegel in der Wissenschaft der Logik einen absoluten An- fang aller Bestimmung des Denkens zu entfalten. Dies kollidiert zumindest partiell mit Hegels Auffassung in der Phänomenologie des Geistes. Bekanntlich soll die "Phänomenologie" eine Hinführung zum absoluten Standpunkt leisten. Ist die Phänomenologie aber eine solche Einleitung in den absoluten Standpunkt, so kann der "logische Anfang" nur noch eingeschränkt als absoluter Anfang verstan- den werden, denn er wäre ja dann durchaus vermittelt. Krijnen meint nun, dass nach Hegel dieser Anfang innerhalb der Wissenschaft der Logik zweifach verstan- den werden könnte: Nämlich entweder eingeleitet durch die Phänomenologie des Geistes oder aber begonnen durch Entschluss (90). Da dieser Entschluss zur Un- mittelbarkeit auch ohne die Notwendigkeit einer Einleitungswissenschaft gefasst werden könne, sei die die Phänomenologie nicht konstitutiv für den Anfang in der Wissenschaft der Logik. Weil die Phänomenologie des Geistes somit keineswegs notwendig für den "logischen Anfang" sei, müsse sie sogar als systematisch über- flüssig betrachtet werden. Die Frage ist nun allerdings vor dem Hintergrund des absoluten Standpunktes: Wer ist Subjekt dieses Entschlusses? Kann dieses Subjekt unter den Prämissen der Krijnen'schen Exegese ein "endlicher Philosoph" sein?
Der Autor verweist auf Hegels einschneidende Kritik an der traditionellen Lehre vom Urteil (123). Ihr Fundament hat Hegels Kritik in der bestimmungslo- gischen Einsicht, Negativität sei konstitutiv für geltungsrelevante Bestimmtheit. Dementsprechend müsse sie auch Relevanz für den Subjektbegriff des Urteils auf- weisen. Hegel wirft der traditionellen Urteilstheorie vor, keine wirkliche Bestim- mung erzielen zu können. Der di(h)airetische Logos, der in der traditionellen Sicht des Urteils obwalte, mache dieses letztlich zu einer defizienten Bestimmungsstruk- tur, insofern das Urteil gleichermaßen Bestimmung wie Unbestimmtheit erzeugen müsse. Der Autor schreibt über das Urteil mit Bezug auf die erste Triade (99): "diese Sätze blieben vom Urteil als identischer aber einseitiger Beziehung von Sub- jekt und Prädikat ,unverbunden', das ,Nichtidentische' des Subjekts und des Prä- dikats falle ebenso weg wie die Beziehung zwischen dem ,Identischen' und dem ,Nicht-identischem'." Um die Bestimmungsfunktion des Denkens vollständig etablieren zu können, schlage Hegel vor, entweder die "Lehre vom Subjekt des Ur- teils" in die "Lehre vom Prädikat des Urteils" zu "integrieren" oder umgekehrt die Prädikatlehre in die Subjektlehre, "je nach Perspektive". Erst in einer gnoseo- logischen Struktur, in der Prädikat des Urteils und Subjekt des Urteils nicht mehr äußerlich und unvermittelt einander gegenüberstünden, sei ursprüngliche und wahre Bestimmtheit garantiert (123f.)
In Zusammenhang mit diesen Erwägungen steht auch Hegels dialektische Me- thode, die der Autor im engen Zusammenhang mit der Urteilskritik Hegels dar- stellt (152ff.). Hegels Methode und ihr Zusammenhang mit der Lehre vom Urteil wird von Krijnen wie folgt beschrieben. Der Begriff, der am Anfang nur "konkrete Totalität" an sich sei, müsse "für sich" gesetzt werden (152). Als das Unbe- stimmte zu Bestimmende erfahre er inhaltliche Bestimmung, indem er zu seinem anderen werde (a.a.O.).Damit sei der Begriff er selbst und sein Gegenteil (a.a.O.) Das andere verleihe als Oppositum dem Begriff seine Bestimmheit. Urteilstheore- tisch hieße dies, dass ein zunächst Unmittelbares als Vermitteltes genommen werde (155). Dieses Zweite sei nach Hegel als Negatives des Allgemeinen (des ers- ten), mithin als Besonderes zu betrachten. Das Zweite nehme das Erste in der Funktion des Resultates auf - und zwar so, dass das Erste im Zweiten untergegan- gen sei (155). Krijnen schreibt hierzu (155): "das Unmittelbare (Subjekt) ist das Vermittelte (Prädikat). Die ,inadäquate' Form derartiger Sätze ist offenbar: sie sind in sich widersprüchlich. Sie ,setzen' nicht, was sie ,enthalten'. Da das Zweite die Verbesonderung des Ersten ist, ist jetzt die Widersprüchlichkeit des Allgemei- nen, des Ausgangspunkts der Begriffsbewegung, aufgedeckt."
Wichtig in diesen Zusammenhängen ist Krijnen der Hinweis darauf, dass sich das negative Verhältnis von Erstem und Zweitem keineswegs als Korrelations- verhältnis verstehen ließe, sondern ganz eindeutig ausschließlich als lineares Pro- gressionsverhältnis von Begriffen (156). Es erstaunt nicht, wenn der Autor nun auch Rickerts Kritik an der Hegel'schen Negationstheorie anspricht (161). Das Ur- sprungsproblem - so Krijnen - beinhalte nicht nur die ursprüngliche Qualifikation der Selbstbestimmung, sondern auch die der Se/fesibestimmung. Weniger schlag- wortartig gesagt, gehe es in der bezeichneten Problematik gleichermaßen um die Genesis von Bestimmtheit und den Ursprung der Bestimmtheit (a.a.O.). Hegel habe zwar ein klares Bewusstsein von der Gedoppeltheit der Problematik besessen, es sei ihm aber nur gelungen, den Aspekt der Bestimmungsgenese durchsichtig zu machen, die "Ursprungsreflexion" habe er relativ diffus belassen (a.a.O.). Hegels Bestimmungstheorie weise deshalb der Progression der Bestimmungen eine homo- gene Struktur zu (161 f.). Rickerts Theorie des Denkens gelinge es hingegen qua Heterothetik auch den Ursprung der Bestimmung luzide zu machen.
Von besonderem Interesse ist für den Autor die adäquate prinzipientheoretische Qualifikation des Systems der Philosophie. Insbesondere seine Gewährsleute Werner Flach und Hans Wagner werden einer Kritik unterzogen. Wagner kenne nur eine horizontale Progression der Prinzipien. Jedes neue Thema der Prinzipien- reflexion trete gleichsam zu spontan und nicht wirklich systematisch begründet in das Blickfeld der Reflexion. Krijnen merkt deshalb zu Wagner an (366): "Diese Forderung der Notwendigkeit jeweiliger Systemstellen bleibt bei Wagner ein un- gelöstes Versprechen. [...] Wagner ,stößt' regelrecht [...] auf die Ideen."
Werner Flachs Systemkonzeption fundiere im Begriff des Subjektes und dessen Interessenlagen (371). Aufgrund dieser Koppelung des Systembegriffes an das Subjekt könne Flach keinen horizontalen Abschluss der Philosophie bei ihr selbst denken (374) - etwa im Sinne einer sich selbst wissenden Hegel'schen Idee (375). Dies führe dazu, dass Flach die "Abfolge der Systemglieder" im Vergleich zu Wag- ner schwäche (375). Er fasse das Ganze nur als "summatives Ganzes von Teilen" (375). Der Grundvorwurf Krijnens an Flach besteht letztlich darin, nicht die Vollständigkeit der Themata der philosophischen Geltungsreflexion aufzeigen zu können.
Krijnen selbst will von Hegels Systemkonzept lernen. Erst das System der Phi- losophie könne jedem Thema der Reflexion die ihm gebührende Stelle zuweisen.
Systematische Anfragen an den Autor scheinen jedoch unvermeidlich zu sein. Zunächst ist es nicht in jeder Hinsicht plausibel, Hegels Philosophie als eine Letzt- begründung jedweden gegenständlichen Sinns zu fassen. Gotthard Günther, Wer- ner Flach - und aus dem eher analytischen Lager Stekeler-Weithofer etwa - lesen Hegels Wissenschaft der Logik eher als eine Sinnanalyse des Denkens, denn als gnoseologische Geltungstheorie traditionellen Formats. Nirgends in der vorlie- genden Monographie findet sich eine Rechtfertigung der These von "Hegel als Geltungstheoretiker" durch den Autor.
Systematisch von größerer Bedeutung scheint mir jedoch der Umstand zu sein, dass das Systemkonzept Fichtes kaum einer adäquaten, bzw. fairen Würdigung unterzogen wird. Was zum Systembegriff der Philosophie zu sagen wäre, hat Fichte im Modus seiner Sprache mustergültig in der Schrift "Über den Begriff der Wissenschaftslehre" ausgeführt. Dort unterscheidet Fichte zwischen thematischen und unthematischen Prinzipien. Die unthematischen Prinzipien werden von Fichte terminologisch als "Handlungen" bezeichnet - die Prinzipgedanken als "Sätze". Nur das System der unthematischen Prinzipien qua Handlungsarten ist vollstän- dig und geschlossen, das reflexive System der Philosophie und dessen gedachte Prinzipien sind laut Fichte nicht nur offen, sondern prinzipiell fallibel.1 Fichte stellt sich nun in der Grundlage der Wissenschaftslehre von 1794/95 die Frage, was unter dem System der un thematischen Prinzipien zu verstehen sei, bzw. wie dieses der Reflexion zugänglich sein könne. Wenn man den Beginn der frühen Wissenschaftslehre in prinzipientheoretischer Weise liest, so kann man eine origi- nelle Argumentationstaktik Fichtes konstatieren. Fichte fasst nämlich das Konti- nuum aller Prinzipien inbegrifflich zusammen: Nach der Seite der unthematischen Prinzipien heißt dieser Inbegriff Tathandlung - nach der Seite der thematischen Prinzipien wird dieser Inbegriff im ersten und obersten Grundsatz entfaltet.
Indem Fichte im ersten Grundsatz alle Prinzipien inbegrifflich fasst, steht er nicht (wie z.B. Reinhold) vor dem Problem, den Anfang seiner Transzendentalphi- losophie bei diesem oder jenem angenommenen konkreten Prinzip rechtfertigen zu müssen. Der erste Grundsatz ist aber damit in einem "aristotelisch-elenkti- schen" Sinne unbedingt. Denn da er die Prinzipien des Wissens inbegrifflich fasst, bestritte derjenige, der ihn bestritte, nicht etwa die Gültigkeit eines bestimmten Prinzips des Wissens, sondern zugleich in widersprüchlicher Weise, weil mit An- spruch auf Wissen (! ) die Möglichkeit des Wissens selbst. Denn die Bestreitung der Gültigkeit des Inbegriffs der Prinzipien des Wissens im Wissen müsste entwe- der bestreiten, dass es Wissen gibt - oder aber bestreiten, dass Wissen einen Grund hat. Die erste genannte Bestreitungsvariante ist offenkundig widersprüchlich. Die zweite ist es implizit. Denn der Begriff des Wissens ist mit den Gedanken der Begründung und der Rechtfertigung verkoppelt. Wenn der Bestreiter der zweiten Variante auch nur mit dem Begründen seiner These begänne, Wissen habe keinen Grund, widerspräche er sich selbst "durch diese Begründungshandlung".
Fichtes Überlegungen zeigen eines ganz genau. Systematizität kann allein weder den Weg der Reflexion regulieren, noch die Gültigkeit des Systems der Philoso- phie stützen. Der Ursprung ist stets dem System der gedachten (! ) Prinzipien transzendent.
Genau deshalb kann der Ursprung des Systemes nur in einer an die elenktische Methode angelehnte Weise ausgewiesen werden, wie Fichte in seinen frühen Ein- leitungen in die Wissenschaftslehre darlegt. Pikanterweise ist hier zu erwähnen, dass Reinhold Aschenberg in seinen vorzüglichen Hegelarbeiten darzulegen ver- mochte, dass man die Phänomenologie des Geistes als eine (qua.si)-elenktische Einführung in den absoluten Standpunkt auffassen könne. Den schlichten "Ent- schluss" am Anfang der Wissenschaft der Logik stark zu machen (wie Krijnen) und als spekulativer Groß-Alexander den Gordischen Knoten unvermeidbarer Vermittlung durchschlagen zu wollen, ist evtl. ein zu anspruchsvolles Unterfan- gen. So kann man Hegel lesen, aber so muss man ihn nicht lesen.
Auf alle Fälle haben Hegels Reflexionen (m.E. willkürlich) den wichtigen Un- terschied zwischen unthematischen und thematischen Prinzipien einbezogen. Durch die Aufhebung der Unterscheidung zwischen thematischen und unthemati- schen Prinzipien kann das System der Philosophie einerseits überhaupt nur als fi- nit und vollständig verstanden werden - und das Subjekt der Philosophie kann an- dererseits nur als das Absolute selbst aufgefasst werden. Verräterisch mag es betreffs dieser Sachlage erscheinen, dass der Autor an früherer Stelle gerade da- rauf strikt insistiert, wenn er schreibt: "Philosophie als Philosophie ist eine Gestalt des ,absoluten Geistes': der absolute Geist philosophiert." (251) "Hegel argumen- tiert nicht vom Endlichen zum Unendlichen, sondern geht vom Absoluten (abso- luten Standpunkt) aus." (68)
Ganz abgesehen davon, dass man sich bei derlei Äußerungen bisweilen fragen muss, ob der Autor der Meinung ist, dem Absoluten eigne ein niederländischer Eigenname, besteht unter "ernster Betrachtung" natürlich primär die Frage, ob Krijnen nicht jene Seite Hegels systematisch stärke, die total überholt sind.
Trotz der angedeuteten Kritikpunkte muss man sagen, dass Krijnens Buch auf einem systematisch sehr hohem Niveau argumentiert. Die Durchdringung und Behandlung der philosophischen Sachprobleme gelingt dem Autor vorbildlich. Es dürfte in der heutigen Zeit, in der höchst selten Schriften mit echtem systema- tischen Tiefgang publiziert werden, nicht viele Arbeiten geben, die sich mit dem Niveau von Christian Krijnens Habiliationsschrift messen dürften. Es bleibt die Hoffnung, dass das Buch einen großen Leserkreis finden wird.
1 Vgl. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: I,2., z.B. 140,141, 142, 146.
Reinhard Hiltscher, Dresden
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