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Als ich im letzten Mai mit Klaus-Rüdiger Wöhrmann über Celan sprach, wurde ich zum ersten Mal auf die Interpunktion in Celans Dichtung aufmerksam gemacht. Wöhrmann blätterte in der japanischen Übersetzung des Gedichtbandes "Von Schwelle zu Schwelle" und sagte plötzlich, daß die Übersetzung des Gedichtes "Leuchten" falsch sei.
LEUCHTEN
Schweigenden Leibes
liegst du im Sand neben mir,
Übersternte.
Brach sich ein Strahl
herüber zu mir?
Oder war es der Stab,
den man brach über uns,
der so leuchtet?
(Celan, Bd. I, S. 87)
Zwischen zwei Strophen schreibt Celan 10 Punkte, in der japanischen Übersetzung befanden sich an der entsprechenden Stelle aber 30 Punkte. Vielleicht hatte sich der übrigens hervorragende Übersetzer etwas dabei gedacht. Oder hatte nur die Großzügigkeit des Setzers, die Anzahl der Punkte verdreifacht. Mir fiel kein Grund für die 30 Punkte ein. Und ich wußte auch nicht, warum sich im Originaltext 10 und nicht etwa 11 oder 9 Punkte befanden. Wenn die Anzahl der Punkte einen Sinn hat, muß der Übersetzer daran festhalten. Aber muß man die Punkte in Celans Gedichten überhaupt zählen? Der Name "Celan" bedeutet "Zähl an!", hatte Wöhrmann gesagt.
Die 10 Punkte in diesem Gedicht blieben mir im Gedächtnis wie Sandkörner in der Suppe. Die Interpunktionszeichen sind Fremdkörper sowohl für die phonetische Schriftals auch für die ideographische. Sie sind im Originaltext fremd, und sie bleiben auch in der Übersetzung, die aus einer anderen Sprache besteht, fremd. Insofern sind sie die einzigen ^übertragbaren* Zeichen in Celans Gedichten. Das bedeutet aber, daß sie sich durch den Prozeß der Übersetzung nicht öffnen, sondern sich mit geschlossenem Körper aus dem Original in eine Übersetzung bewegen. Ich hatte mir damals tagelang über die 10 Punkte in Celans Gedicht Gedanken gemacht. Aber ich kam zu keinem Ergebnis.
Während meines erfolglosen Nachdenkens fiel mir ein Aufsatz von Adorno ein, in dem er die Satzzeichen als Physiognomie des Textes beschreibt. Gedankenstriche zeigen demnach "Falten auf der Stirn der Texte" (Adorno, S. 109) , das Ausrufungszeichen stellt eine unerträglich gewordene "Gebärde der Autorität" (ebd., 108) dar, und die "drei Punkte", mit denen man "in der Zeit...