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Wollte aber jemand einmal dasjenige von den seienden Dingen, worin diese beiden (sc. Meinung und Wissen) entstehen, für etwas anderes als die Seele erklären, dann würde er alles eher als die Wahrheit sagen.1
(Plato, Timaios,37 c 8)
Die folgenden Ausführungen bieten grundsätzliche Überlegungen zu Stand und Status der Fichte-Deutung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert unter dem Aspekt von Fichtes problematischem Verhältnis -zur Metaphysik.2 Der erste Teil verfolgt die Karriere Fichtes als Metaphysiker in der deutschen Philosophie und Philosophiegeschichtsschreibung der letzten beiden Säkula. Der etwas kürzere zweite Teil erörtert Fichtes zwiespältiges Verhältnis zur Metaphysik im Licht von Kants nicht minder ambivalenter Stellung zur Metaphysik und im Hinblick auf den gegenwärtigen Stand der Fichte-Forschung. Im ersten Teil erweist sich das Bild Fichtes als Metaphysiker als ein getreues Spiegelbild der Hauptströmungen der Philosophie in Deutschland. Im zweiten Teil tritt der übergegensätzliche, gegenständliche Differenzierung übergreifende und allererst begründende - kurz: der transzendentale Charakter der Wissenschaftslehre in den Vordergrund. In beiden Teilen manifestiert sich die systematische Nähe Fichtes zum Kantischen Doppelprojekt einer kritischen Transzendentalphilosophie und kritischen Moralphilosophie, das in der Konzeption der sich selbst begründenden und sich selbst begrenzenden Vernunft konvergiert.
1. Fichte als Metaphysiker
Von den Hauptrepräsentanten der klassischen deutschen Philosophie hat Fichte im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert die erratischste und problematischste Rezeptions- und Wirkungsgeschichte erfahren. In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts blieb die Kenntnis der Philosophie Fichtes auf dessen von ihm selbst publizierte Schriften beschränkt. Daraus resultierte das wissenschaftlich-populistische Doppelbild Fichtes. Im Hinblick auf die Publikationen der Jenaer Zeit - insbesondere die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95), die Grundlage des Naturrechts (1796/97) und Das System der Sittenlehre (1798) - erschien Fichte als der ultraszientifische Nachfolger Kants, der dessen theoretischpraktische Doppelleistung - die kritische Transzendentalphilosophie und die kritische Moralphilosophie - in das radikal vereinheitlichte System der Wissenschaftslehre integriert hatte. Mit Blick auf die populären Publikationen der Erlanger und Berliner Zeit - insbesondere Ueber das Wesen des Gelehrten (1806), Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806) und Die Anweisung zum seeligen Leben (1806) - musste dagegen der Eindruck entstehen, aus dem Wissenschaftslehrer Fichte sei der Glaubens- und Weltanschauungslehrer geworden.
Dabei unterlag der scheinbare Wandel in Fichtes Denken von der Wissenschaft zur Weltanschauung einer doppelten Einschätzung. Für Schelling und Hegel bekundete sich in Fichtes populärer Wende ein Nachlassen der spekulativen Kraft,...