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Lydia Mechtenberg: Kants Neutralismus. Paderborn: mentis, 2006, 374 Seiten. ISBN 978-3-89785-545-8.
Die Autorin sieht einen wichtigen Schlüssel für das Gelingen einer adäquaten Einschätzung der kritischen Philosophie in der exakten Würdigung jener strikten Ablehnung des "Bivalenzprinzips" (z.B. 100), welche Kant immer wieder zum Ausdruck brächte. Dieses Bivalenzprinzip wird in der These artikuliert, ausschließlich wahrheitsdifferente Aussagen seien nicht sinnlos. Kant räume jedoch ganz dezidiert die Möglichkeit sinnvoller Aussagen ein, die dennoch niemals geltungsdifferent werden könnten (100). Er insistiere vielmehr vehement darauf (103), dass über einen wirklichen Gegenstand nicht eo ipso wahrsrelevante Urteile statthaben müssten. Einerseits hinge dies mit der Prozessualität unserer Erkenntnis zusammen. Denn es gebe Gegenstände, auf die wir uns derzeit noch nicht, wohl aber später beziehen könnten, wie dies etwa dereinst bei der Frage nach der Existenz der Einwohner des Mondes der Fall war. Andererseits sei es nicht auszuschließen, dass es Gegenstände geben könnte, die niemals Thema unserer Erkenntnis werden könnten, die aber von anderen "endlichen Wesen" evtl. "vernommen" werden könnten (215). Jeder durch die empirische Anschauung vermittelte Gegenstand sei somit ein real existierender Gegenstand unserer Erkenntnis - aber nicht jeder real existierende Gegenstand sei Bezugspunkt unserer empirischen Anschauungen. Diese Position Kants wird von Mechtenberg als semantischer Neutralismus bezeichnet. Doch Mechtenberg will systematisch noch weitaus mehr erreichen.
Der semantische Neutralismus, welcher einräumt, es könnten sinnvolle, wenngleich nicht geltungsdif ferente Urteile über unzugängliche "ansichseiende Gegenstände" stattfinden, kommt an seine Grenzen bei der Erklärung der objektiven Geltungsprätention unserer Urteile bezogen auf Einzeldinge. Einzeldinge sind für Kant die Grundbausteine unserer Erfahrung. Nach der Meinung der Autorin korrespondiert deshalb Kants semantischem Neutralismus ein quasi-ontologischer Realismus mit Blick auf Einzeldinge. Wir müssen nämlich - so Mechtenberg - Einzeldinge als geschlossene Menge von Merkmalen konzipieren (a) und davon ausgehen, dass wir diese in unseren Urteilen auch derart (b) repräsentieren können (115-121). Andernfalls wäre die Objektivitätsprätention des Urteils nicht zu begreifen. Die für diese Argumentation fundamentalen operativen Termini "geschlossene Menge", "abgeschlossene Menge" sowie "offene Menge" wurden von ihr bereits vorher im Rahmen einer Darstellung des kantischen Antinomienkapitels eingeführt. Auch eine unendliche Bedingungsreihe von einzeln für sich je selbst bedingten, aber andere, nachfolgende Aussagen bedingenden Aussagen müsse als unbedingt angesehen werden. Letztere Reihe nennt Mechtenberg eine geschlossene Menge. Ist die geschlossene Menge aber in einer letzten Aussage finit, sei sie zudem eine...