1. Spiegelneuronen als Grundlage menschlicher Interaktion
In den 1990er Jahren haben Neurowissenschaftler/innen bei Nervenzellen in motorischen Arealen des Gehirns von Affen eine neue Funktion entdeckt. Diese Zellen, von denen man erwarten wurde, bei der Verrichtung motorischer Akte aktiv zu werden, zeigen Aktivitat auch dann, wenn der Affe vergleichbare motorische Akte beobachtet. Mehr noch, die Aktivitat richtet sich nicht nur danach, dass die Handlung ausgefuhrt wird, sondern sie scheint auch noch davon abzuhangen, ob diese Ausfuhrung auch sinnvoll ist. So zeigt sich eine Aktivitat von Spiegelneuronen, wenn ein Affe beobachtet, wie ein Versuchsleiter eine Nuss ergreift - beobachtet der Affe hingegen die gleiche Bewegung, ohne dass etwas zum Ergreifen da ware, bleibt auch die Aktivitat der Spiegelneuronen aus. Weil die neuronale Spiegelung des Vorgangs offenbar abhangig von einer Erkenntnisleistung ist (ist etwas zum Ergreifen da?), diese aber nicht auserhalb des Spiegelneuronensystems nachgewiesen werden kann, sprechen Neurowissenschaftler/innen von einer "Modalitat des Verstehens, die vor jeder begrifflichen oder sprachlichen Vermittlung unsere Erfahrung mit den anderen pragt" (RIZZOLATTI & SINIGAGLIA 2008, S.191f.). [1]
Dieses pra-reflexive Verstehen ist nicht nur aus neurowissenschaftlicher Sicht eine spektakulare Entdeckung, sie reizt auch zu vielfaltigen Uberlegungen in der Philosophie und den Kultur- und Sozialwissenschaften. Dabei geht es einerseits darum, die Erkenntnisse dieses Bereichs der Neurowissenschaften zu nutzen, um bestehende Theorien und Modelle zu differenzieren (oder auch zu begrunden), andererseits bieten sie aber auch Ansatze, Theorielucken zu schliesen oder bestehende Konzepte grundsatzlich infrage zu stellen. [2]
Besonders anregend ist die Auseinandersetzung mit Spiegelneuronen dabei in Bezug auf grundlegende soziale Phanomene wie Mitgefuhl und Verstandnis. So beschreibt GALLESE bei Spiegelneuronen einen Mechanismus des "intentional attunement" (2005, S.31), der grundlegend dafur verantwortlich gemacht wird, die Handlungen anderer als Handlungen einer Person wahrzunehmen. RIZZOLATTI und SINIGAGLIA (2008) prasentieren Spiegelneuronen als "biologische Basis des Mitgefuhls". Auch ZABOURA, deren Buch hier besprochen wird, folgt dieser Linie zunachst und bezeichnet Spiegelneuronen als "physiologische Essenz der Empathie und Mitmenschlichkeit" (S.14). [3]
Sie leistet einen Beitrag zu dieser Diskussion, indem sie Spiegelneuronen aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive betrachtet. Es geht ihr dabei zunachst darum, "das neuronale Phanomen mit bestehenden philosophischen, sozial- und kommunikationswissenschaftlichen Theorien zu kontrastieren und neu einzuordnen" (S.15), im weiteren Verlauf aber auch darum, "das Konstrukt des abendlandischen Subjekts kritisch zu hinterfragen und den Zusammenhang zwischen Geist, Korper und Intersubjektivitat neu zu verorten" (ebd.). [4]
2. Zum Aufbau und Inhalt des Buches
Aus den Gegenstanden der einzelnen Kapitel von ZABOURAs Buch ergibt sich implizit eine Gliederung in drei Hauptteile: Nach einer Einleitung folgt ein Teil zu vorwiegend philosophischen Perspektiven auf das Subjekt und auf Intersubjektivitat, der gewissermasen den Diskussionshintergrund fur die Auseinandersetzung mit Spiegelneuronen darstellt. Ein zweiter Teil (mit den Kapiteln funf bis sieben) wendet sich einer naturalistisch orientierten Darstellung der Spiegelneuronen in biologisch-physiologischer, evolutionarer und psychologischer Perspektive zu (ohne jene Fragen, die uber eine naturalistische Sichtweise hinausgehen, aus den Augen zu verlieren). Ein dritter Teil mit den Kapiteln acht und neun widmet sich den Ertragen dieser Diskussion, ihrer kritischen Bewertung und sich daraus ergebenden Perspektiven. [5]
2.1 Philosophische Sichtweisen auf Intersubjektivitat und das Subjekt
ZABOURA widmet sich, nach einer Einleitung in das Themenfeld, zunachst dem Konzept der Intersubjektivitat, das sie vor allem in historisch-philosophischer Sicht entfaltet. Sie verortet die damit verbundenen Fragen beim Leib-Seele-Problem und lasst - auch mit dieser Einordnung - bereits eine argumentative Strategie erkennen, die die Leser/innen uber weite Teile des Buches begleiten wird: Ein Gegenstand wird in eine Dualitat von Gegensatzen (leiblich-geistig, materialistisch-mentalistisch, subjektiv-objektiv usw.) eingeordnet. Im dritten Kapitel wird eine solche Dualitat an der Position DECARTES' auf der einen und LEIBNIZ' auf der anderen Seite skizziert. Es bleibt allerdings bei einer Skizze, die eher Stichworte aus dem Themenfeld referiert und zwischen ziemlich allgemeinen ("Leibniz [...] auserte sich in seinem Schaffen zu einer Vielzahl von Themen", ebd., S.32) Aussagen und langeren, detaillierten Zitaten der (im Falle LEIBNIZ' franzosischen) Originalquellen nicht immer zu einem konsistenten Niveau findet. [6]
Das vierte Kapitel setzt die oben angesprochenen Dualitaten mit Blick auf den modernen philosophischen Diskurs fort. Hier sind es die Phanomenologie (namentlich HUSSERL und MERLEAU-PONTY) auf der einen Seite und eine Vielfalt von Stromungen, die vereinfachend unter Naturalismus subsumiert werden, auf der anderen. Das Kapitel liefert einen Einblick in einige Themen neuzeitlicher Philosophie (und Sozialwissenschaft), die fur die Diskussion um Spiegelneuronen Anschlussmoglichkeiten bieten, gerat jedoch immer wieder zu einer allzu simplifizierenden Darstellung philosophischer Schlusselbegriffe (etwa "Intentionalitat", ebd., S.39 oder "Epoché", ebd., S.40), ohne dass hierdurch die wunschenswerte Klarheit geschaffen wurde. Zwar ist kaum zu erwarten, dass etwa die Feinheiten der Leibphanomenologie MERLEAU-PONTYs auf so knappem Raum entfaltet werden konnen, in der vorliegenden Form bleibt allerdings das Unbehagen zuruck, eher mit Signalwortern und knappen Theorieausschnitten konfrontiert zu sein. Die wachsende Bedeutung, die der Blick auf den Leib in den Sozialwissenschaften in jungerer Zeit wieder zu gewinnen scheint (vgl. fur die Padagogik z.B. MEYER-DRAWE 2008; LIEBAU 2008) wird hier wohl zu Recht festgestellt, und sie manifestiert sich ja auch in der bereits angedeuteten philosophisch-erkenntnistheoretischen Interpretation von Phanomenen wie dem der Spiegelneuronen. Sie in phanomenologischer Sicht weiter zu differenzieren erscheint allerdings fur die weitere Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Thema, den Spiegelneuronen, gar nicht erforderlich. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Autorin immer wieder zwischen dem Begriff des Leibes und dem des Korpers wechselt, ohne dass dem ein ersichtliches Prinzip zugrunde lage. [7]
Ahnliches gilt fur die "naturalistische" Position, die der phanomenologischen gegenuber gestellt wird. Auch hier wird - ausgehend von DARWINs (1875) Theorie der Abstammung des Menschen - eine Reihe von Theoriebeitragen zu einer naturalistischen Grundlage von Subjektivitat und Intersubjektivitat angesprochen, ohne dass der Raum ware, diesen jeweils gerecht zu werden. Die Darstellung muss notwendigerweise an der Oberflache verbleiben und es erschiene manches Mal besser, es ware weniger angesprochen worden. Ein Ertrag dieses Kapitels, der allerdings weniger auf der hier erfolgenden Berucksichtigung naturalistischer Ansatze beruht, als auf der Tatsache, dass in diesem Abschnitt den Beitragen der Soziologie mehr Raum gewidmet wird, besteht darin, dass die Bedeutung von Imitation fur die Entwicklung sozialer Fahigkeiten betont wird. [8]
2.2 Spiegelneuronen - biologische, evolutionare und psychologische Perspektiven
Das funfte Kapitel widmet sich den Spiegelneuronen selbst. ZABOURA stellt hier deren physiologische Struktur und neurologische Bedeutung knapp und treffend dar, dabei lasst sie auch die oben genannten Interpretationen nicht auser Acht, die Neurowissenschaftler/innen wie GALLESE selbst diesen jenseits einer materialistisch-biologischen Beschreibung geben. Die Darstellung folgt dabei im Wesentlichen einem Aufsatz, den die Autorin bereits drei Jahre zuvor in einem Sammelband publiziert hat (vgl. ZABOURA, S.57, FN 55). Einige der vorausgehenden Bezuge, z.B. zu MERLEAU-PONTY oder zu MEAD, sind in diesem Kapitel bereits angelegt, sodass es wohl als Keimzelle fur das gesamte vorliegende Buch begriffen werden kann. [9]
Das sechste Kapitel liefert unter dem Titel "Evolutionare Bedeutsamkeit und Konsequenz der Spiegelneurone" (ebd., S.77) ebenso anregende wie spekulative Interpretationen derselben in Bezug auf die stammesgeschichtliche (Kapitel 6.1) und individuelle (Kapitel 6.2) Entwicklung. Eine zentrale Idee des ersten Teils ist, dass die Fahigkeit zum empathischen Mitempfinden durch das Spiegelneuronensystem bezogen auf eine Spezies evolutive Vorteile zu verschaffen vermag. Hier konvergieren die Ergebnisse der Forschung zu Spiegelneuronen mit auf anderem Wege gewonnenen, aber letztlich ahnlichen Resultaten bei TOMASELLO: "Human's especially powerful skills of social-cultural cognition early in ontogeny thus serve as a kind of 'bootstrap' for the distinctively complex development of human cognition in general. We may call this the cultural intelligence hypothesis" (HERRMANN, CALL, HERNÁNDEZ-LLOREDA, HARE & TOMASELLO 2007, S.1360). Gleichwohl macht ZABOURA in diesem Zusammenhang deutlich, dass das Spiegelneuronensystem kaum als vollstandige Erklarung fur diese Arten komplexer sozialer Wahrnehmung dienen kann. Ob das, wie angegeben (S.83), haufig behauptet wurde, sei zunachst dahingestellt. Sicher ist ihr jedoch zuzustimmen, dass die Spiegelungsprozesse allenfalls eine von moglicherweise vielen Grundlagen fur eine solche Wahrnehmung darstellen. [10]
Im zweiten Abschnitt uber die individuelle Entwicklung werden Spiegelneuronen allgemein mit dem Vorgang der Imitation in Verbindung gebracht. Das funktioniert als Argument erwartungsgemas ohne Probleme, bringt aber bezuglich ihrer Bedeutung fur die individuelle Entwicklung auch wenig Neues, weil hierzu insbesondere durch die Soziologie und Sozialpsychologie bereits Vieles gesagt worden ist. Die ontogenetische Perspektive wird mit einem neuen Schwerpunkt spater noch einmal aufgegriffen (S.97ff.); hier ist der Hinweis auf ontogenetische Fragen vor allem insofern bedeutsam, als wir bisher schlicht wenig uber die Entstehung und Entwicklung des Spiegelneuronensystems im individuellen Lebenslauf wissen. [11]
Im siebten Kapitel eroffnet ZABOURA einen weiteren Diskussionsstrang, der erneut aus einer Dichotomie hervorgeht, in diesem Falle der von simulation theory und theory theory innerhalb der Diskussion um eine theory of mind. Analog dem Titel des Kapitels geht es um die Frage, auf welche Weise wir strukturell Zugang zu den inneren Zustanden anderer gewinnen konnen - ob wir entweder entlang einer "Theorie" des oder der Anderen deren Verhalten verstehen oder ob wir vermittels einer "Simulation" anderer gleichsam deren Situation nachahmen und dann deren innere Zustande in uns selbst abgebildet finden. Die Gegenuberstellung beider Ansatze ist jedoch nicht zwingend erforderlich (vgl. VAN RIEL 2008), und so stellt sich das hier diskutierte Problem moglicherweise als Scheinproblem dar. Bezeichnenderweise schlagt sich das unmittelbar in Formulierungen nieder. So fragt ZABOURA: "Uberwinden wir unsere korperlichen Grenzen und stehen wirklich sprichwortlich 'in den Schuhen des anderen'" (S.98) und lasst damit die Frage offen, wie - in einem im weiteren Sinne erkenntnistheoretischen Zusammenhang - mit der Formulierung "wirklich sprichwortlich" umzugehen ist. Erst spater wird deutlich, dass die Dichotomie der beiden Ansatze nur funktional verstanden wird, indem die Spiegelneuronen der simulation theory zugeordnet werden (ahnlich argumentiert auch GALLESE, 2005, der von embodied simulation spricht). So ist es eine Starke dieses Abschnittes, die Diskussion um Spiegelneuronen neuerlich in den Kontext der theory of mind zu stellen, gleichwohl fehlt hier die begriffliche und argumentative Prazision, wie auch inhaltliche Ungenauigkeiten auftreten. Man kann zum Beispiel kaum als gesichert erachten, dass Autist/innen "nur uber eine sehr begrenzte Zahl von Spiegelneuronen" (ZABOURA, S.110) verfugen. [12]
2.3 Diskussion, Zusammenfassung und Ausblick
Mit der Frage nach den inner- und auserbiologischen Ursprungen von Bedeutung und Sinn befasst sich das achte Kapitel, das gleichzeitig ein erstes Resumee darstellt. ZABOURAs Fazit besteht darin, dass das Spiegelneuronensystem fur das un- oder vorbewusste Verstehen von Gefuhlen und Absichten verantwortlich sei. Fur die Entstehung von Sinn ist damit noch ein weiterer, bewusster Anteil erforderlich. Auch wenn dieses bewusste Verstehen an die Spiegelneuronenprozesse anschliesen oder sie sogar zur Voraussetzung haben mag, weise es notwendigerweise uber sie hinaus. Diese Argumentation wird vor allem als Gegenposition zu einem materialistischen Reduktionismus vorgetragen, der etwa im Spiegelneuronensystem bereits die gesamte Erklarung fur Empathie gefunden zu haben glaubt (vgl. hierzu auch Abschnitt 3.2). [13]
Das abschliesende, neunte Kapitel fuhrt die bereits begonnene Zusammenfassung fort. Die Frage nach den Konsequenzen, die die Entdeckung der Spiegelneuronen fur die Kommunikationswissenschaften im Besonderen und die Sozialwissenschaften im Allgemeinen hat, beantwortet es angesichts des vorausgehenden Theorieaufwandes eher undramatisch: Das "Somatisieren von Bedeutung [ist] nun kein so schockierend neuer Ansatz" (S.134f.) in den Geistes- und Sozialwissenschaften, und "[s]o lasst sich festhalten, dass Spiegelneurone keine Bedrohung darstellen" (S.135), sondern lediglich ein neurophysiologisches Korrelat zu kommunikationswissenschaftlich bereits weitgehend geklarten Vorgangen. Das Kapitel schliest mit Hinweisen auf weitergehende Diskussionen, die vor dem Hintergrund der Spiegelneuronen neue Impulse und Richtungen bekommen konnten. Ein Beispiel ist die dringende Forderung nach einer interdisziplinaren Auseinandersetzung (zu der ZABOURAs Beitrag ebenso zahlt wie verschiedene Veroffentlichungen GALLESEs und eine insgesamt wachsende Menge von Literatur zum Thema Spiegelneuronen auch auserhalb der disziplinaren Grenzen der Neurowissenschaften). Ein weiteres Beispiel ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Spiegelneuronen und medial vermittelter Erfahrung. Es uberrascht kaum, dass das Betrachten von Filmen ahnliche Aktivitaten der Spiegelneuronen induziert wie das Betrachten realer Handlungen. Aber bereits wenn Versuchspersonen Satze horen, in denen Aktionen beschrieben werden, lassen sich - im Rahmen der beim Menschen moglichen forschungsmethodischen Zugange - Ruckschlusse auf eine Aktivitat des Spiegelneuronensystems finden (vgl. HOLLAND 2009, S.95f.; TETTAMANI et al. 2005); und dennoch bleibt unklar, welche Auswirkungen es hat, wenn etwa "Bewegungsablaufe nicht mehr in realer, sondern nur noch in abgeschwachter, virtueller Version gesehen, nachvollzogen und gelernt werden" (ZABOURA, S.138). [14]
3. Beurteilung und Kritik
In der inhaltlichen Darstellung wurden bereits verschiedene kritische Aspekte angesprochen. Im Folgenden sollen nun, vor einem kurzen Fazit, zwei Punkte zur genaueren Betrachtung herausgegriffen werden. Beide bauen aufeinander auf und markieren aus meiner Sicht Moglichkeiten wie auch Grenzen der Argumentation im Rahmen von ZABOURAs Buch. [15]
3.1 Mensch und Tier
Fur ZABOURAs Darstellung spielt die anthropologische Frage nach einem Unterschied zwischen Mensch und Tier eine entscheidende Rolle, die sich im Laufe des Textes immer deutlicher herauskristallisiert. Implizit wird hier die gelaufige These vertreten, dass sich der Mensch fundamental vom Tier unterscheide, der Unterschied also von grundsatzlich anderer Qualitat sei als der Unterschied zwischen Angehorigen sonstiger verschiedener Spezies. Diese These klingt im Text immer wieder mit, obwohl sie nicht explizit belegt wird. Wenn etwa ROTH mit den Worten zitiert wird, dass es "eine der hervorstechendsten Eigenschaften des Menschen [ist], sich in die Wahrnehmungs-, Denk- und Gefuhlswelt seiner Mitmenschen hineinversetzen zu konnen" (nach ZABOURA, S.97), dann bedeutet das gerade nicht, dass es sich bereits um einen der "unverwechselbaren, artkonstituierenden Faktoren" (S.97) der Spezies Mensch handelt, weil ROTH nicht behauptet, dass dieses hervorstechende Merkmal nicht auch bei anderen Spezies vorkommen konne. [16]
Die Geschichte der Anthropologie ist bekanntermasen reich an Beschreibungen "artkonstituierender" Merkmale, die - soweit sie einem naturwissenschaftlichen Forschungsparadigma grundsatzlich zuganglich sind - mit einiger Verzogerung auch beim Tier gefunden wurden (man denke beispielsweise an die beruhmten Untersuchungen KOHLERs zur Sprachfahigkeit bei Schimpansen). Freilich ist damit nicht gesagt, dass die jeweils in Frage stehenden Fahigkeiten und Merkmale bei Tier und Mensch in gleicher Weise ausgebildet seien, aber die Suche nach menschenspezifischen Alleinstellungsmerkmalen oberhalb der Gattungsebene war bisher im Bereich der Naturwissenschaften nicht sehr erfolgreich (aussichtsreicher erscheinen hier insgesamt die Ergebnisse verschiedener Richtungen der philosophischen Anthropologie). So gibt es auch zur Fahigkeit sozialer Wahrnehmung vergleichende Befunde von Mensch und Schimpanse (HERRMANN et al. 2007, S.1362f.), die zwar darauf hinweisen, dass Menschen hier uberlegen sind, dass sie aber eben nicht exklusiv uber diese Fahigkeiten verfugen. Der Versuch, nun gerade in diesem Sachbereich uber die Neurowissenschaften die vorliegenden philosophischen Argumente materialistisch zu untermauern, fuhrt (auch bei ZABOURA) zu einem systematischen Problem: Die differenzierten Befunde zu Spiegelneuronen werden vor allem im Tierversuch gewonnen, weil forschungsethische Gesichtspunkte vergleichbare Versuche am Menschen verbieten. Entsprechend sind Aussagen uber die Funktionsweise von Spiegelneuronen beim Menschen in der Regel von geringerer Genauigkeit, sei es, weil sie per Analogieschluss gewonnen werden, sei es, weil ungenauere Untersuchungsverfahren angewandt werden (etwa bildgebende Verfahren der neuronalen Aktivitat in einem Bereich des Gehirns beim Menschen gegenuber der direkten Ableitung der Aktivitat einzelner Nervenzellen beim Tier). Umgekehrt erlauben hermeneutische Forschungszugange dem Menschen prinzipiell genaueren Aufschluss uber menschliche Qualitaten als uber Eigenschaften des Tieres, zumindest wenn man sich der Vorstellung anschliest, dass der Mensch durch gemeinsam geteilte Sprache und strukturelle Ahnlichkeit seinesgleichen besser zu verstehen in der Lage ist als andere Spezies. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, Spiegelneuronen als "biologische Basis des Mitgefuhls" (RIZZOLATTI & SINIGAGLIA 2008) beim Tier als am besten nachgewiesenen Mechanismus zu uber-, beim Menschen zu unterschatzen. Gerade weil diese Diskrepanz forschungslogisch angelegt ist, kann sie nicht als Ausgangspunkt fur Folgerungen zum Mensch-Tier-Vergleich dienen. [17]
3.2 Reduktionismus
Die Kritik zur Unterscheidung zwischen Mensch und Tier fuhrt weiter zu einem grundlegenderen Dualismus, der - stellvertretend fur andere Differenzierungen - mit dem traditionellen Begriff des Geist-Materie-Dualismus bezeichnet werden soll. Inhaltlich geht es um die Frage, inwieweit menschliches Handeln (nun unabhangig von dem Vergleich zum Tier) auf materielle Strukturen und mit ihnen verbundene Prozesse reduziert werden kann. ZABOURA lehnt einen solchen Reduktionismus in einer beinahe programmatischen Formulierung entschieden ab:
"Wir mochten uns jedoch klar und ausdrucklich von der neuro-atomistischen Bewegung distanzieren, die das Intersubjektivitatsproblem durch ganzliche Negierung eines bewussten, intendiert handelnden Subjekts und zugunsten gewisser neuronaler Ablaufe in bestimmten Cortexarealen losen mochte. Auch wenn dieser Ansatz hohe Popularitat geniest und inzwischen im offentlichen Diskurs verankert ist, stimmen wir nicht mit der Meinung uberein, dass der Mensch und seine Willens- und Handlungsfreiheit eine vom Gehirn geschaffene Illusion sei" (S.55). [18]
Auch wenn ich dieser Position ZABOURAs grundsatzlich nicht widerspreche, bleibt dreierlei fraglich. Erstens: Welcher offentliche Diskurs ist hier gemeint? Ein materialistischer Reduktionismus wird, wie ZABOURA ja in den ersten Kapiteln noch einmal entfaltet, seit jeher diskutiert und er findet auch immer eine Offentlichkeit; gleichwohl spricht wenig dafur, dass diese Position als Grunduberzeugung jenseits methodischer Entscheidungen in der akademischen Fachwelt, an die das Buch sich richtet, eine beherrschende Stellung gewonnen hat. Sollte es jedoch so sein, stellt sich zweitens die Frage, ob die Entdeckung der Spiegelneuronen hierbei eine besondere Rolle spielt. Tatsachlich bedeuten sie ja - neurowissenschaftlich - zunachst nicht mehr, als das bestimmte Erkenntnisleistungen mit anderen neuronalen Aktivitaten korrelieren als ursprunglich angenommen. Drittens geht die Frage nach der Freiheit als einer "vom Gehirn geschaffenen Illusion" uber die Bedeutung der Spiegelneuronen hinaus. Nahme man - nur um des Gedankenexperiments willen - an, Spiegelneuronen leisteten eine basale Form des Verstehens, die fur weiter gehende Erkenntnisleistungen genutzt wurde, so sprache das weder fur noch gegen die Vorstellung eines freien Willens. Diese in einer Auseinandersetzung zwischen philosophischen und neurowissenschaftlichen Zugangen zu diskutieren, wurde anhand anderer neurowissenschaftlicher Befunde fruchtbarer, etwa in Bezug auf die Experimente LIBETs, die bei ROTH (2001, S.437f.) eine Interpretation in Richtung einer Relativierung freien Willens erfahren, welche ihrerseits von MEYER-DRAWE (2008, S.127ff.) relativiert wird. Es spricht viel dafur, dass ein Ausweg aus dieser Frage nur in der Entwicklung (und letztlich auch Anerkennung) neuer Forschungsmethoden zu finden ist, ein Beispiel stellt hier die kognitive Phanomenologie (ROTH 2004) dar. [19]
3.3 Fazit
ZABOURA beteiligt sich mit ihrem Beitrag an einer ebenso aktuellen wie komplexen Debatte. Schon der Anschluss an die aktuellen Entwicklungen der medizinisch-neurologischen Forschung zu Spiegelneuronen stellt dabei fur Sozialwissenschaftler/innen eine Herausforderung dar. Es ist positiv hervorzuheben, dass die Autorin an dieser Stelle vorliegende Befunde mit angemessener Zuruckhaltung interpretiert und neurowissenschaftliche Perspektiven denen aus anderen Disziplinen gegenuberstellt. Wohltuend ist, dass sie (im Gegensatz zu manch anderer Darstellung vergleichbarer Themen) auf den "Sprachzauber der Neurowissenschaften" (MEYER-DRAWE 2008, S.75) verzichtet und tatsachlich versucht, den Beitrag der Neurowissenschaften mit anspruchsvollen geistes- und sozialwissenschaftlichen Theorien zu vermitteln. Dabei entstehen interessante Anregungen, etwa die, die bei HUSSERL angelegten Vorstellungen von Simulation (vgl. ZABOURA, S.42ff.) mit jenen in Beziehung zu setzen, die sich in GALLESEs "embodied simulation" (2005) ausdrucken. Oft kommen diese Bezuge allerdings sehr kurz und verdienten eine sorgfaltigere Prufung - nicht zuletzt, weil im Text Begriffe haufig nicht mit der notwendigen Prazision verwendet werden. Hervorzuheben ist wiederum, dass der Text sehr flussig geschrieben ist. ZABOURA versteht es, ihr Anliegen gut lesbar zu formulieren. Sie tragt damit dazu bei, dass das Thema Spiegelneuronen eine Aufmerksamkeit erfahrt, die ihm zusteht, und sie bewahrt es gleichzeitig davor, zu einem Gegenstand unreflektierten Staunens abzugleiten. Im Rahmen einer fundierten sozial- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Spiegelneuronen kann das Buch vor allem jenen, die parallel auch andere Texte lesen und mit den bei ZABOURA angesprochenen Quellen vertraut sind, interessante Anregungen bieten, wenngleich es in der eigenen Darstellung diesbezuglich viele Fragen offen lasst. [20]
Zum Autor
Henning PATZOLD ist Professor fur Padagogik und Dozent an der Freien Hochschule Mannheim, auserdem Senior Researcher des Deutschen Instituts fur Erwachsenenbildung (DIE). Seine Forschungsinteressen umfassen padagogische Theorien des Lernens, padagogische Verantwortung und europaische Erwachsenenbildung. Jungere Veroffentlichungen sind u.a. "Strukturelle Kopplung, Konstruktivismus und Spiegelneuronen" (Padagogische Rundschau 4/2010, S. 405-418), "Verantwortungsdidaktik" (Baltmannsweiler: SchneiderVerlag Hohengehren 2008), Learning in the world - towards a culturally aware concept of learning. European Conference on Educational Research (ECER), http://www.eera-ecer.eu/fileadmin/user_upload/Publication_FULL_TEXTS/ECER2008_244_Patzold.pdf.
Kontakt:
Prof. Dr. Henning Patzold
Freie Hochschule Mannheim
Zielstrase 28
D-68169 Mannheim
Tel.: 0621/30948-13
Fax: 0621/30948-50
E-Mail: [email protected]
URL: http://www.freie-hochschule-mannheim.de/
Zitation
Patzold, Henning (2010). Spiegelneuronen in der sozialwissenschaftlichen Diskussion. Review Essay: Nadia Zaboura (2009). Das empathische Gehirn. Spiegelneurone als Grundlage menschlicher Kommunikation [20 Absatze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 11(2), Art. 24, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1003245.
© 1999-2011 Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (ISSN 1438-5627)
Supported by the Institute for Qualitative Research and the Center for Digital Systems, Freie Universitat Berlin
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Copyright Freie Universität Berlin 2010
Abstract
Since their discovery in the mid-1990s, mirror neurons have been the subject of continuous discussions in neurosciences as well as in the social sciences. The interest of scientists outside the life sciences in mirror neurons is primarily based on the fact that mirror neurons not only have epistemological meaning, but also seem to play an important role in processes of social insights and emotions, like empathy. With her book, Nadia ZABOURA provides a new contribution from a social and cultural sciences point of view, which critically reflects the discussion on mirror neurons and its consequences on the social sciences and humanities. Starting off from philosophical approaches to the mind-matter-dualism and the question of intersubjectivity, she explores the meaning of mirror neurons for the debate on empathy and communication. By discussing concepts of philosophy and communication sciences as well as current knowledge on mirror neurons, she concludes that they do not provide a stable basis for any material reductionism, which would explain phenomena like intersubjectivity only by recordable neuronal processes. The book refers to a variety of related theories (ranging from DESCARTES through to MEAD and TOMASELLO); these references are inspiring, yet they stay cursory for the most part. All in all the book offers avenues for further inquiry on the issues in focus, and can rather be taken as "tour of suggestions" through the topical field of mirror neurons and the related research.
URN: urn:nbn:de:0114-fqs1003245
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