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Kaiste, Jaana: Das eigensinnige Kind. Schrecken in pädagogischen Warnmärchen der Aufklärung und Romantik (Studia Germanistica Upsaliensia 49). (Diss.) Uppsala 2005. 193 S.
Bei der ersten Konfrontation mit dem Untertitel des Buches mag man sich fragen, ob diese Dissertation von Jaana Kaiste im Fach Deutsch an der Universität von Uppsala wirklich so viel Neues birgt und ob sie nicht vielleicht 30 Jahre zu spät veröffentlicht wurde. Eine pädagogische Perspektive auf die Märchen nach den Brüdern Grimm war immerhin zu Zeiten von Psaar/Klein (Psaar, WVKlein, M.: Wer hat Angst vor der bösen Geiß? Zur Märchendidaktik und Märchenrezeption. Braunschweig 1976) und Richter/Merkel (Richter, D./Merkel, J.: Märchen, Phantasie und soziales Lernen. Berlin 1974) en vogue, als Bruno Bettelheim postulierte: "Kinder brauchen Märchen", und eine hitzige Diskussion um die Gewaltmotivation in den Märchen angesichts antiautoritärer Erziehungsmodelle entbrannte.
"Schrecken in pädagogischen Wammärchen" - also ein alter Hut? Kaistes Textkorpus rekrutiert sich nicht nur aus den sechs Märchen der Brüder Grimm: Rotkäppchen (KHM 26), Der Wolf und die sieben jungen Geißlein (KHM 5), Hansel und Gretel (KHM 15), Frau Trude (KHM 43), Wie Kinder Schlüchtern miteinander gespielt haben (KHM 22 I, ?) und Das eigensinnige Kind (KHM 1 17), sondern auch aus der Sammlung Unglücksgeschichten (1788) von Johann Baptist Strobl. Beide Textsorten werden als repräsentativ für die jeweiligen Epochen Romantik bzw. Aufklärung herangezogen; beiden gemeinsam ist das pädagogische Element des Schreckens als "zeitresistentes Phänomen" (S. 9), wie Kaiste als Prämisse festhält. Dies erlaubt einerseits einen Vergleich beider Textsorten, gestattet es andererseits auch, die bekannteren und späteren Grimm-Texte als Untersuchungsbasis zu wählen, auf der Kaiste die Entwicklung pädagogischer Leitgedanken mit der anschließenden Perspektive auf die Texte Strobls aufbaut. Kaistes Ziel ist es, zum einen pädagogische Intentionen im Märchen, zum anderen strukturelle Konstanten in unterschiedlichen Erzählformen zwischen Aufklärung und Romantik zu erarbeiten.
Daß Wilhelm Grimm bei der Zusammenstellung der Kleinen Ausgabe didaktische Absichten verfolgte, demonstriert Kaiste bei der textgenetischen Analyse von Rotkäppchen. Das Märchen offenbare trotz der unterschiedlichen Präsentation seiner Lehrhaftigkeit bei Perrault, Bechstein und Grimm gleichermaßen den Mechanismus, daß der Erzähler "mit Hilfe des Schreckens [...] das zuhörende Kind unterhaltend belehren" will (25). Gerade Rotkäppchen könne als Paradebeispiel für die Erziehung zum Gehorsam vermittels eines hohen Identifikationsgrads zwischen Hörer und Heldenfigur thenen. Dabei stellt sich natürlich die bekannte und auch...