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Abstract
Nach dem Muster des angeblichen jüdischen Ritaalmords an Simon von Trient hat der Haller Stadtarzt und Schriftsteller Hippolytus Guarinonius in den Jahren seit 1619 die Legende des Anderl von Rinn konstruiert. Das erste rezeptionsgeschichtlich relevante Zeugnis für diese Legende ist ein in Hall 1621 aufgeführtes Jesuitendrama, an dessen Entstehung Guarinonius ohne Zweifel beteiligt war. Der bald darauf einsetzende und bis ins Ende des 20. Jhs. reichende religiöse Kult um Anderl von Rinn wurde wahrscheinlich durch diese Aufführung in Gang gebracht. Der Spieltext des Dramas ist verloren. Zwei vollständige Exemplare der Perioche sind jedoch erhalten. Der Periochentext wird hier erstmals veröffentlicht.
Die Legende des Andreas von Rinn, der 1462 als dreijähriger Knabe einem jüdischen Ritualmord zum Opfer gefallen sein soll, ist ein berühmtes, wenn auch unrühmliches Kapitel der Tiroler Geistesgeschichte. Die Nachwirkungen der Verehrung des "Anderl" reichen bis in die jüngste Vergangenheit: der 1753 unter Papst Benedikt XIV. genehmigte Kult und die damit verbundenen alljährlichen Wallfahrten wurden erst 1994 - unter heftigen Protesten einer kleinen Gruppe von Anderl- Verehrern - endgültig durch den damaligen Bischof Reinhold Stecher verboten. Heute wissen wir, dass die Legende wohl die Erfindung eines einzelnen fanatischen Kämpfers für die Gegenreformation in Tirol war, nämlich des Haller Stadtarztes und Schriftstellers Hippolytus Guarinonius (1571-1654). 1 Er formte die Geschichte des Anderl in bewusster Analogie zu dem im 15. Jh. für großes Aufsehen sorgenden Fall des kleinen Simon von Trient, dem wohl berühmtesten frühneuzeitlichen Beispiel für einen angeblichen jüdischen Ritualmord.2 Es ist das Verdienst Georg Schroubeks, das historisch Greifbare um die Anderl-Legende und den Anderl-Kult zusammengetragen und die notwendigen Schlüsse daraus gezogen zu haben.3 Guarinonius schrieb die Legende in seiner Manuskript gebliebenen Histori der Marter deß Haillig-Vnschuldigen Khindtß Andreae von Rinn nieder.4 Das Werk entstand in seiner ersten Fassung laut der am Ende gegebenen Datierung in den Jahren 1620, 1621 und 1623. Nach fast dreißig Jahren gab ihm Guarinonius dann 1651 die heute überlieferte Form.5 Die Erforschung der Legende auf ihre Entstehungsgeschichte hin hat natürlich von diesem Text als der frühesten Quelle auszugehen. Das gilt aber nicht für eine rezeptionsgeschichtliche Betrachtung. Vielleicht hat Guarinonius dem einen oder anderen Freund Einsicht in sein Manuskript gewährt. Die breite Öffentlichkeit konnte davon aber nichts wissen. Das erste öffentlichkeitswirksame Zeugnis der Legende war hingegen das im Juli...