Zusammenfassung
Die Verhältnisse sozíalschichtbedingter Disparitäten der Bildungsbeteiligung und des Bildungserfolgs haben sich über die letzten Jahrzehnte als ausgesprochen stabil erwiesen. Zur Erklärung dieses Sachverhalts wird einerseits auf den gesellschaftliche Verhältnisse reproduzierenden Einßuss des Schulsystems hingewiesen, andererseits könnten auch Effekte familiärer Transmission in Rechnung gestellt werden. In der hier vorgestellten Untersuchung sollen beide Perspektiven miteinander verknüpft werden: Welchen Einfluss haben familiäre Strukturmerkmale und familiäre Praxen in unterschiedlichen Schulumwelten auf die Leseleistung und soziale Kompetenzen? Untersucht werden N = 15.783 Gymnasiasten und Hauptschüler des PISA-2OOO-EDatensatzes. In Mehrgruppen-Strukturgleichungsmodellen zeigen sich differenzielle Effekte familiärer Lebensverhältnisse an Hauptschulen und Gymnasien.
Schlagworte
Soziale Disparitäten; Schulform; Leseleistung; Soziale Kompetenzen
Differential influences of family and school type on reading and social skills
Abstract
Social disparities of educational participation and school achievement have proven as highly stable over the last decades. To explain this fact the school system can be made responsible for reproducing social inequality; as another effect familial transmission can be brought into account. In the study presented here both perspectives are linked together: What is the impact of structural and process-based characteristics of families in different school environments on reading performance and social skills? The study examines N = 15,783 students of different school types (Hauptschule/ Gymnasium) of PISA 2000-E. Multi-group structural equation models show differential effects of family background and school type.
Keywords
Sociol disparity; School type; Reading performance; Social skills
1. Soziale Disparitäten des Bildungserwerbs
An die im Verlauf der igsoer-Jahre einsetzende Expansion höherer Bildungsabschlüsse knüpfte sich spätestens seit Beginn der igoOer-Jahre die sozialpolitische Analyse eines mit der Bildungsexpansion einzufordernden Bildungschancenausgleichs zwischen den sozialen Schichten (Schelsky, 1957; Dahrendorf, 1965; Peisert, 1967; Peisert & Dahrendorf, 1967). Tatsächlich lassen sich für einzelne Bereiche - beispielsweise bezüglich des Realschulbesuchs - bis zum Ende der I970er-Jahre bedeutsame Verringerungen sozialer Ungleichheiten beim Bildungserwerb feststellen (Schimpl-Neimanns, 2000). Nichtsdestotrotz erweist sich die sozialschichtbedingte Bildungsungleichverteilung bis heute als ausgesprochen verharrungsstabil: Zwar steigen die Chancen für Schüler und Schülerinnen jeder sozialen Herkunftsgruppe, einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen, die Verhältnisse schichtspezifischer Bildungschancenbenachteiligungen bleiben davon allerdings größtenteils unberührt (Ditton, 1992; Köhler, 1992; Meulemann, 1992).
Die nahe liegende Annahme, die Gründe für die zunächst ernüchternde Befundlage, dass trotz Bildungsexpansion und Bildungsreformen das Ausmaß sozialer Disparitäten im Bildungsbereich weitgehend bestehen bleibt, im institutionalisierten Schulsystem als eigentliche Ursache der Ungleichheitsreproduktion zu verorten, erweist sich bei genauerem Hinsehen aber als wenigstens zu einseitig. Betrachtet man beispielsweise schulische Entwicklungsverläufe als vermeintliche Motoren einer Disparitätenproduktion, ist wiederholt festgestellt worden, dass sich innerhalb einer Schulform bzw. innerhalb einer Schulklasse gerade kein Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Schulerfolg aufzeigen lässt. Beispielsweise konnten Schnabel, Alfeld, Eccles, Koller und Baumert (2002) sowohl für das deutsche als auch für das amerikanische Schulsystem keinen Einfluss des elterlichen Bildungsniveaus und Sozialstatus auf die Leistungsentwicklung, d.h. unter Kontrolle der Eingangsleistung, von der siebten bis zur zehnten Klasse feststellen. Die Ursachen sozialer Disparitäten bei der Bildungsbeteiligung könnten deshalb gerade nicht in die Schulen hineinverortet werden: "Within a given school type and, therefore, within each individual school, teachers cannot do anything substantial to prevent the exacerbation of the association between achievement and social background" (Schnabel et al., 2002, S. 194). Darüber hinaus weisen Stuthen zur Leistungsentwicklung in den Schulferien (Burkam, Ready, Lee & LoGerfo, 2004; Downey, Hippel & Broh, 2004; Entwisle, Alexander & Olson, 1997) darauf hin, dass schulisches Lernen keinen beziehungsweise einen Disparitäten eher hemmenden Einfluss ausübt: Verläuft die Leistungsentwicklung von Schülerinnen und Schülern aus unterschiedlichen sozialen Schichten innerhalb eines Schuljahres nahezu parallel, sinkt der Leistungsstand von Schülerinnen und Schülern aus sozial benachteiligten Herkunftsfamilien in den Ferien ab. Sozial privilegierten Schülerinnen und Schülern gelingt es dagegen ihr Leistungslevel über die Ferien zu halten beziehungsweise es zu erhöhen.
Zur Beschreibung und Erklärung der Genese und Reproduktion sozialer Disparitäten im Bildungssystem erscheint es deshalb notwendig, zusätzlich zu auf Systemebene angesiedelten Strukturmerkmalen auch Vermittlungsprozesse in Betracht zu ziehen, deren Einfluss sich innerhalb eines Herkunftsmilieus bzw. innerhalb familiärer Lebensverhältnisse manifestiert. Spätestens seit PISA 2000 (Baumert, Stanat Sr Demmrich, 2001) wird der Zusammenhang von sozialer Herkunft und der Bildungsbeteiligung in der empirischen Bildungsforschung deshalb zunehmend komplexer modelliert und analysiert. Neben der Quantifizierung der Einflüsse von familiären Strukturmerkmalen, wie der sozioökonomischen Stellung, dem Bildungsniveau oder dem Migrationsstatus, bemüht man sich in der empirischen Bildungsforschung um heuristisch angemessene Operationalisienmgen von milieuspezifischen Prozessmerkmalen, mit denen sich familiäre Lebensverhältnisse in empirische Forschungsprogramme integrieren lassen. Beispiele hierfür wären familiäre, kulturelle oder kommunikative Praxen.
Der Zusammenhang von familiären Lebensverhältnissen und fachlichen Kompetenzen ist mittlerweile vergleichsweise gut erforscht. Insbesondere ist von Baumert, Watermann und Schümer (2003) für die alten und neuen Bundesländer auf die hohe Bedeutung des kulturellen Kapitals der Herkunftsfamilie für den Erwerb fachlicher Kompetenzen am Beispiel der Leseleistung hingewiesen worden. So zeigt sich der Einfluss der familiären Strukturmerkmale (sozioökonomische Stellung, beruflicher Bildungsabschluss und Migrationsstatus) als in hohem Maße über die kulturelle Praxis vermittelt. Watermann und Baumert (2006) berichten ähnliche Befunde für sowohl nationale als auch internationale Analysen der PISA-2000-Daten bezüglich der Leseleistung, Mathematikleistung und Problemlösekompetenz. Eine Modellierung des Einflusses familiärer kommunikativer Praxen führte - bei Kontrolle der kulturellen Praxis - in den angesprochenen Untersuchungen allerdings zu keiner Feststellung entsprechender empirischer Evidenzen.
Mit dem vorliegenden Beitrag soll an dem Problem des bisher nicht feststellbaren Einflusses familiärer kommunikativer Praxis auf die schulische Leistungsentwicklung angesetzt werden. Dazu sollen insbesondere zwei erweiternde Untersuchungsperspektiven zum Tragen kommen:
1. Untersucht wird, ob (sowohl kulturelle als auch kommunikative) familiäre Praxen einen Beitrag für die Entwicklung sozialer Kompetenzen leisten.
2. Zusätzlich wird die moderierende Wirkung zweier schulischer Kontexte (Gymnasium und Hauptschule) in den Blick genommen.
Ausgehend von einer Darstellung des theoretischen Hintergrunds (Abschnitt 2), erfolgt in Abschnitt 3 eine Konkretisierung der Fragestellung. Abschnitt 4 widmet sich der Beschreibung der Datengrundlage und Untersuchungsmethode, deren Ergebnisse im 5. Abschnitt dargestellt werden. Abschließend werden die Ergebnisse zusammenfassend diskutiert (Abschnitt 6).
2. Theoretischer Hintergrund
Der theoretische Referenzrahmen zur Beschreibung von Wirkungsmechanismen familiärer Struktur- und Prozessmerkmale hinsichtlich des Bildungserwerbs umfasst im Anschluss an Bourdieu und Coleman zunächst einen theoretischen Ansatz, mit dem auf die mitentscheidende Rolle familiärer Bildungskapitalien zur gesellschaftlichen Reproduktion hingewiesen ist. Darüber hinaus legt Bronfenbrenners Theorie der menschlichen Entwicklung die Unterscheidung von Prozess und Umwelt nahe und ermöglicht so einen Erklärungsansatz für Transmissionsprozesse, deren Wirkung sich bezüglich ihrer jeweiligen Entwicklungsumwelt unterscheidet. Diesem Ansatz wird dadurch Rechnung getragen, dass Schulformen als differenzielle Entwicklungsmilieus vorgestellt werden. Schließlich wird auf die Lesekompetenz als ein básales Kulturwerkzeug moderner Gesellschaften und auf die in diesem Beitrag verwendete Konzeption sozialer Kompetenzen eingegangen.
Familiäre Struktur- und Prozessmerkmale: kulturelles und soziales Kapital In der bourdieuschen Kapitalientheorie (Bourdieu, 1983; Bourdieu & Passeron, 1971) wird angenommen, dass sich gesellschaftliche Reproduktion über familiäre Transmissionsprozesse vollzieht. In Anlehnung an ein bildungsökonomisches Begriffsinstrumentarium wird Schulerfolg als Ergebnis einer gelingenden Vermittlung familiär akkumulierter Bildungskapitalien interpretiert. Als Bildungskapitalien kommen dabei neben kulturellen Ressourcen (z.B. Bücher und Gemälde) oder kulturelle Aktivitäten (z.B. Museums- oder Theaterbesuche) auch das Vorhandensein und die Nutzung sozialer Netzwerke in Betracht. Die Wirkung des sozioökonomischen Status auf den schulischen Erfolg ist nach Bourdieu deshalb keine bloße Folge der materiellen Lebensverhältnisse, sondern ebenso den sozialen und kulturellen familiären Lebenspraxen geschuldet.
Während Bourdieu unter sozialem Kapital allgemein "Ressourcen, die auf Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen" (Bourdieu, 1983, S. 191) versteht, schlägt Coleman (1988, 1991) vor, soziales Kapital nicht nur an der Verfügbarkeit sozialer Netzwerke festzumachen. Auf individueller Ebene verortet Coleman soziales Kapital im Gefüge gegenseitiger Erwartungen und Verpflichtungen, das sich als Vertrauen oder in der Verfügbarkeit relevanter Informationen kumuliert. Auf kollektiver Ebene wird soziales Kapital als gesellschaftliche Norm und ihre wirksamen Sanktionierung aufgefasst (Haug, 2007). Soziales Kapital entwickelt sich nach Coleman (1996) in dauerhaften, vielfältigen und geschlossenen (d.h., dass die Bezugspartner auch untereinander interagieren) sozialen Beziehungen. Insofern ist auch der Stil und die Intensität sozialer Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie dem sozialen Kapital hinzuzurechnen.
Das erfolgreich von einem Individuum inkorporierte Kultur- bzw. Sozialkapital, verstanden als kumulierte Kompetenzen, Werthaltungen, Deutungs- und Handlungsmuster, bezeichnet Bourdieu als "Habitus", über den der Zugang und die Teilhabe an bürgerlichen Kulturgütern, beispielsweise der Übergang auf prestigeträchtige Bildungseinrichtungen oder Universitäten, reguliert wird. Über die Lebenszeit verinnerlichen Personen kulturelles und soziales Kapital so, dass daraus dauerhafte Dispositionen, d.h. die Fähigkeit sich in bestimmten Situationen auf eine bestimmte - angemessene, erwartete oder erwünschte - Weise zu verhalten, entstehen, die das individuelle Verhalten im gesellschaftlichen Interagieren regeln. Dabei vollzieht sich beispielsweise die "Inkorporation" eines Gemäldes über die Aneignung des zur Interpretation und Interaktion mit einem Kunstwerk nötigen Wissens und Könnens.
Zusammengefasst wird deutlich, dass Bourdieu und Coleman familiären Vermittlungspraxen eine entscheidende Rolle beim Bildungserwerb zuschreiben - erst die Nutzung, nicht die bloße Verfügbarkeit einer kulturellen Infrastruktur vermag eintretenden oder ausbleibenden Bildungserfolg hinreichend zu erklären. Das aber heißt, dass eine erfolgreiche Teilhabe am Bildungssystem davon abhängt, wie gut es Familien gelingt ihr Kultur- oder Sozialkapital in ein habituell inkorporiertes, und damit dispositionell verfügbares Kapital der nachfolgenden Generation zu transformieren.
Bronfenbrenner: Die Ökologie der menschlichen Entwicklung
Bronfenbrenner (1981) untersucht im Rahmen seiner "Ökologie der menschlichen Entwicklung" Menschen als aktive Gestalter der von ihnen wahrgenommenen Umwelten. Dazu unterscheidet Bronfenbrenner ähnlich wie Bourdieu und Coleman, Strukturmerkmale auf Personen- oder Umweltebene von Prozessmerkmalen, z.B. schichtspezifische Erziehungspraxen, die als reziproker Wirkungszusammenhang von Interaktionen auf Personenebene verstanden werden.
Im Unterschied zu Bourdieu und Coleman umfasst Bronfenbrenners Prozessbegriff einzelne Interaktionsformen eines Organismus mit der Umwelt (Bronfenbrenner Sr Morris, 2006), die als "proximale Prozesse" gekennzeichnet werden. Unter proximalen Prozessen werden Interaktionen einer sich entwickelnden Person mit Personen oder Gegenständen ihrer unmittelbaren Umwelt verstanden, die wiederholt oder über einen längeren Zeitraum am Entwicklungsprozess beteiligt sind. Während bei Bourdieu familiäre Transmissionsprozesse als Motoren sozialer Reproduktion aufgefasst werden, postuliert Bronfenbrenner proximale Prozesse als die eigentlichen Primärquellen menschlicher Entwicklung.
Bronfenbrenner schlägt vor, hinsichtlich des Entwicklungskriteriums zwischen "Dysfunktionen" und "Kompetenzen" zu unterscheiden. Wobei unter Dysfunktionen Manifestationen von Selbstkontroll- oder sozialen Anpassungsproblemen und unter Kompetenzen die Fähigkeit zur Demonstration von Wissen und Fähigkeiten verstanden werden. Bezüglich der Wirkung proximaler Prozesse entwickelt Bronfenbrenner die Hypothese einer spezifischen Wirkungsweise in privilegierten und benachteiligten Entwicklungsumwelten:
The greater developmental impact of proximal processes on children growing up in disadvantaged or disorganized environments is to be expected to occur mainly for outcomes reflecting developmental dysfunction. By contrast, for outcomes indicating developmental competence, proximal processes are posited as likely to have greater impact in more advantaged and stable environments. (Bronfenbrenner & Morris, 2006, S. 803)
Mit anderen Worten postuliert Bronfenbrenner für benachteiligte Umwelten Effekte, die sich als Dysfunktionshemmungen erklären lassen. Für privilegierte Umwelten wird dagegen mit Effekten einer Kompetenzentwicklung gerechnet.
Schulformen als différentielle Entwicklungsmilieus
In leistungsstratifizierten Schulsystemen ist mit der gewollten Differenzierung nach Leistung auch eine soziale Segregation zwischen den Schulformen verbunden, da Schulleistungen nicht unabhängig von der Herkunft sind. Insbesondere gilt dies für die deutlich voneinander abgegrenzten Hauptschulen und Gymnasien. Überschneiden sich die Zusammensetzungen der Schülerschaft sowohl hinsichtlich der Schulleistung als auch hinsichtlich familiärer Herkunftsmerkmale in den "mittleren" Schulformen (Realschulen, Schulen mit mehreren Bildungsgängen, Gesamtschulen) relativ breit, überlappen sich Hauptschulen und Gymnasien hinsichtlich beider Perspektiven, d.h. sowohl leistungsthematisch, als auch hinsichtlich ihrer sozialen Komposition, quasi gar nicht (Baumert, Stanat & Watermann, 2006).
Vergleicht man die Zusammensetzung der Schülerschaften anhand sozialer, ethnischer und kognitiver Individualmerkmale, zeigen sich "spiegelbildlich verlaufende Profile von Hauptschulen und Gymnasien" (Baumert et al., 2006, S. 98). Während die übrigen mittleren Schulformen vergleichsweise homogene Umwelten hinsichtlich ihrer sozialen, ethnischen und kognitiven Komposition darstellen, unterscheiden sich Gymnasien und Hauptschulen ausgesprochen stark: "Ganz offensichtlich handelt es sich hier um sozialökologisch weitgehend unterschiedliche Schulumwelten" (Baumert et al., 2006, S. 98).
Hauptschulen und Gymnasien unterscheiden sich also nicht nur hinsichtlich ihrer Leistungs- und Sozialniveaus. Gleiches gilt darüber hinaus auch für soziale, ethnische und kognitive Einzelindikatoren. Die gravierenden Unterschiede zwischen Hauptschulen und Gymnasien legen es nahe anzunehmen, dass neben individuellen intellektuellen, ethnischen und kulturellen Ressourcen sowohl schulformspezifische Lern- und Arbeitsgelegenheiten als auch die schulformspezifische Zusammensetzung der Schülerschaft bei der Entwicklung von Leistungs- und Persönlichkeitsmerkmalen eine maßgebliche Rolle spielen.
Für das deutsche Schulsystem zeigt sich, dass die Zuweisung in eine bestimmte Schulform tatsächlich starke Einflüsse auf die schulische Leistungsentwicklung hat (Baumert, Watermann Sr Schümer, 2003; Baumert et al., 2006; Becker, Lüdtke, Trautwein & Baumert, 2006; Koller, 2004; Koller & Baumert, 2001). Auch bei vergleichbaren Eingangsbedingungen unterscheiden sich Gymnasien einerseits und Haupt-, Real- und Gesamtschulen andererseits sowohl in der fachlichen Leistungsentwicklung (Koller Sr Baumert, 2001) als auch hinsichtlich der Entwicklung überfachlicher und sozialer Kompetenzen (z.B. motivationale, prosoziale und selbstregulative Kompetenzen) zum Teil erheblich: Schülerinnen und Schüler an Gymnasien haben nicht nur mehr Vorwissen, sie lernen auch schneller hinzu als Schülerinnen und Schüler an Haupt-, Real- und Gesamtschulen.
Lesekompetenz
Im Rahmen der PISA-Stuthen wird Lesekompetenz als die Fähigkeit bestimmt, "geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenziai weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (Baumert et al., 2001, S. 23)."
Lesen thent demnach nicht nur der Verbreitung von Informationen und Fakten. Erst über die schriftsprachliche Aneignung von komplexen Wissensstrukturen, Wertvorstellungen sowie normativen, sozialen oder kulturellen Inhalten werden für die nachwachsenden Generationen die Voraussetzungen für eine erfolgreiche, d.h. mündige, Teilnahme am gesellschaftlichen Leben sowie für die Teilhabe an kulturellen Gütern geschaffen (Artelt, Stanat, Schneider & Schiefele, 2001). Unter Lesekompetenz wird deshalb nicht nur die Fähigkeit zu dem Entziffern von Wörtern und Sätzen verstanden, sondern ebenso die Fähigkeit zu einer aktiven und verstehenden Nutzung von Texten. Zur Messung der Lesekompetenz werden neben dem Aspekt "Informationen ermitteln", der sich beispielsweise auf die Geschwindigkeit beziehen kann, mit der Informationen ermittelt werden können, auch die Dimensionen "Texte interpretieren" sowie "Reflektieren und Bewerten" herangezogen.
Bei der Vermittlung von Lesekompetenz haben nach Hurrelmann (2009) die Familie, die Schule und die Peergroup die wichtigste Funktion. Als maßgeblich für eine familiäre Lesekompetenzentwicklung erweisen sich dabei beispielsweise die Art und Häufigkeit des Umgangs mit Texten oder der Gespräche über Gelesenes, aber auch die Häufigkeit, mit der Buchhandlungen oder Bibliotheken besucht werden. Kam der Schule "traditionell die Aufgabe der Einführung in die Schriftlichkeit durch Vermittlung der Kulturtechnik des Lesens und Schreibens" (Hurrelmann, 2009, S. 140) zu, folgen neuere Ansätze eher dem Anspruch einer individuellen Leseförderung, mit der sich familiäre Lesedefizite zumindest zum Teil kompensieren lassen. Die Peergroup spielt nicht nur bei der Verbreitung neuer Methen eine wichtige Rolle. Darüber hinaus übernimmt die Peergroup mit steigendem Alter des Lesers oder der Leserin zunehmend die Rolle des Lesevorbildes oder Lesemodells von den Eltern: "Wer selbst häufig liest, hat überzufällig oft Freunde, die auch viel lesen" (Hurrelmann, 2009, S. 141).
Fasst man Lesekompetenz als ein komplexes, multidimensionales Fähigkeitenkonstrukt auf, wird deutlich, dass der schulische Schriftspracherwerb als maßgebliche Vermittlungsinstanzen zur Erklärung individueller Lesekompetenzen nicht hinreicht. Gerade die Aneignung normativer Inhalte ist im Wesentlichen durch die Lesekultur bzw. die Lesesozialisation seitens der Familie und des sozialen Umfelds mitbestimmt (McElvany, Becker Sr Lüdtke, 2009).
Soziale Kompetenz
Unter den Begriff der sozialen Kompetenz fällt eine große Bandbreite an Fertigkeiten (Kanning 2002, 2005, 2009), die im weitesten Sinn den Bereich zwischenmenschlicher Interaktion betreffen. Zur Beschreibung sozialer Kompetenz (oder auch: sozialer Kompetenzen) unterscheidet Kanning (2005) soziale Kompetenz als ,Anpassung des einzelnen Menschen an die Normen und Werte einer sozialen Gemeinschaft" (Kanning, 2005, S. 2) und soziale Kompetenz als die Fähigkeit zur ,Durchsetzung eigener Interessen in sozialen Kontexten" (Kanning, 2005, S. 3). Dabei wird das Ausmaß, in dem es einem Individuum gelingt sich einem sozialen Kontext anzupassen oder sich in ihm durchzusetzen, nicht von einer globalen, sondern von einer Vielzahl von Fertigkeiten bestimmt. Kanning (2002) unterscheidet drei Dimensionen sozialer Kompetenz: Einen perzeptiv-kognitiven Bereich (soziales Wissen, Perspektivenübernahme, Selbstaufmerksamkeit), einen motivationalemotionalen Bereich (Prosozialität, emotionale Stabilität) sowie einen behavioralen Bereich (Konfliktverhalten, Selbststeuerung, Extraversion).
Im Anschluss an Stanat und Kunter (2001) wird unter sozialer Kompetenz deshalb eine komplexe, mehrdimensionale Handlungskompetenz verstanden, die Schülerinnen und Schüler dazu befähigt, sich in heterogenen sozialen Umwelten "sozial kompetent", d.h. angemessen und erwünscht, zu verhalten.
Über eine fachliche Kompetenzentwicklung hinaus kommt der Institution Schule auch bei der Vermittlung und Entwicklung sozial kompetenter Verhaltensweisen eine wichtige Rolle zu. In beständigen Interaktionen mit Mitschülerinnen, Mitschülern und Lehrkräften können Schülerinnen und Schüler ihr Verhaltensrepertoire erproben und bekommen in Form von Lob und Tadel, Anerkennung und Ablehnung unmittelbare Rückmeldungen über die soziale Angemessenheit ihrer jeweiligen Verhaltensofferte. So gesehen handelt es sich bei sozialen Kompetenzen um ein komplexes Zusammenspiel von Fähigkeiten, Können und Wissen, Einstellungen und Werthaltungen, zu deren Bestimmung neben kognitiven Aspekten, mit denen die grundsätzliche Fähigkeit zur Entschlüsselung und Interpretation sozialer Informationen gemeint ist, auch soziale Orientierungen, d.h. generalisierte Muster sozialer Zielverfolgung sowie soziale Ziele, d.h. konkrete Ziele prosozialer Verhaltensweisen gegenüber anderen Menschen, in Betracht kommen.
2.1 Ein Modell des Zusammenhangs von Struktur- und Prozessmerkmalen familiärer Lebenspraxen und des Bildungserwerbs
Im Anschluss an Baumert et al. (2003) kann hinsichtlich familiärer Einflüsse auf den Bildungserwerb zwischen strukturellen und prozessualen Merkmalen unterschieden werden. Hinsichtlich struktureller Merkmale wird neben dem sozioökonomischen Familienstatus (SES), der sich über die relative Position bzgl. des Einkommens, des Besitzes und des Prestiges innerhalb einer Gesellschaft bestimmen lässt (Ganzeboom, de Graaf, Treiman & Leeuw, 1992), sowohl das Bildungsniveau der Eltern (Coleman, 1966) als auch der familiäre Migrationshintergrund (Baumert & Schümer, 2001) berücksichtigt.
Bestimmt man die bourdieuschen kulturellen, sozialen und ökonomischen Bildungskapitalien als familiäre Transmissionspraxen, lassen sich familiäre Lebensverhältnisse als Prozessmerkmale des Bildungserwerbs operationalisieren. Zum einen werden dazu die familiär verfügbaren kulturellen Ressourcen (z.B. Buchbesitz) und die kulturellen Aktivitäten (z.B. Museumsbesuche) herangezogen. Zum anderen werden soziale Kapitalien über den Stil und die Intensität der familiären Kommunikation, d.h. als kommunikative Praxis modelliert.
Über die im Rahmen der bourdieusch-colemanschen Konzeption nicht weiter berücksichtigte Unterschiedlichkeit von Wirkungsmechanismus familiärer Transmissionspraxen lassen sich in Bronfenbrenners ökologischem, d.h. umweltabhängigem, Entwicklungsmodell konkrete Vorhersagen bzgl. der zu erwartenden Wirkungsrichtung generieren, da hinsichtlich des Bildungserwerbs zwischen bevorteilten/stabilen und benachteiligten/desorganisierten Umwelten unterschieden werden kann. Dazu sollen Hauptschulen und Gymnasien als von den Schülerinnen und Schülern geteilte "Makro<t-Umwelten in den Blick genommen werden. Zwar ist davon auszugehen, dass auch die individuellen familiären "Mikro"-Umwelten der Schülerinnen und Schüler bei der Kompetenzentwicklung eine Rolle spielen, nichtsdestotrotz stellen auch Schulformen sowohl individuelle, kompositioneile als auch institutionelle Entwicklungsumwelten dar, die sich im Anschluss an Bronfenbrenner als stabil/bevorteilt (Gymnasien) bzw. instabil/benachteiligt (Hauptschulen) klassifizieren lassen.
Abbildung i skizziert ein empirisch überprüfbares Modell, das sowohl der Wirkung von Struktur- und Prozessmerkmalen familiärer Lebensverhältnisse als auch dem Einfluss von Entwicklungsumwelten auf den Bildungserwerb Rechnung trägt.
3. Konkretisierung der Fragestellung
Hinsichtlich der Unterscheidung von Struktur- und Prozessmerkmalen familiärer Lebensverhältnisse sollen im Folgenden mit dem familiären Bildungsniveau und dem Migrationsstatus, neben dem sozioökonomischen Status, zwei weitere Strukturmerkmale Berücksichtigung finden. Auf der Prozessebene wird auf zwei Indikatoren familiärer Lebenspraxen zurückgegriffen: Der familiären kulturellen und kommunikativen Praxis. Als Maß für einen erfolgreichen schulischen Bildungserwerb werden neben der Leseleistung auch Indikatoren sozialer Kompetenz hinsichtlich eines sozial erwarteten Unterstützungsverhaltens bzw. einer sozial erwünschten Normeinhaltung herangezogen. Schließlich wird zur Identifikation differenzieller Wirkungsmechanismen zwischen benachteiligten und privilegierten Umwelten unterschieden, indem die Wirkung struktureller und prozessualer Merkmale auf Bildungsindikatoren für Gymnasien (als Proxy für privilegierte Umwelten) und Hauptschulen (als Proxy für benachteiligte Umwelten) getrennt untersucht wird.
Aufgrund der in Abbildung l zusammengefasst skizzierten bisherigen Überlegungen lassen sich folgende Hypothesen formulieren (Baumert et al., 2003).
Hinsichtlich des Zusammenhangs von familiären Prozess- und Strukturmerkmalen und des Kompetenzerwerbs sollten die Befunde in Einklang mit der bisherigen Forschung stehen:
* Der Zusammenhang von familiärer Herkunft und dem Kompetenzerwerb ist über familiäre Prozessmerkmale vermittelt. Insbesondere kommt der familiären kulturellen Praxis hinsichtlich der Vermittlung kompetenzsteigernder Effekte eine zentrale Rolle zu.
Nach Coleman entwickelt sich soziales Kapital auch über den Stil und die Intensität sozialer Beziehungen. Die familiäre Praxis sollte deshalb einen positiven Effekt auf den Erwerb sozialer Kompetenzen haben:
* Zu erwarten ist ein positiver Effekt der familiären kommunikativen Praxis auf den Bereich sozialer Kompetenzen, in dem neben Wissen und Können auch soziale Erwartungen und Normen eine Rolle spielen.
Bronfenbrenner postuliert für bevorteilte Umwelten Kompetenzsteigerungen und für benachteiligte Umwelten Dysfunktionshemmungen. Hinsichtlich des Zusammenhangs von familiären Praxen und des Erwerbs von Bildungskompetenzen ist deshalb mit unterschiedlichen Wirkungsmechanismen an Hauptschulen und Gymnasien zu rechnen:
* Es sollten sich differenzielle Effekte familiärer Praxen in sozial divergierenden Entwicklungsumwelten zeigen. In privilegierten Umwelten (Gymnasien) wird ein positiver Effekt der familiären Praxen auf die Leseleistung, in benachteiligten Umwelten (Hauptschulen) ein Dysfunktionen hemmender Effekt der familiären Praxen erwartet, der mit einer erhöhten sozialen Kompetenz assoziiert ist.
4. Methode
Stichprobe
Für die Analysen wurden Daten aus der nationalen Erweiterung der PISA-2000Studie (PISA-?) verwendet, da sowohl die Erfassung familiärer Lebenspraxen (kulturelle und kommunikative Praxis) als auch der sozialen Kompetenz (Normeinhaltung und Unterstützungsverhalten) für die nachfolgenden PISA-Stuthen wesentlich verkürzt beziehungsweise verändert wurde. Insgesamt umfasst die Stichprobe 15.783 zum Messzeitpunkt 15-jährige Schülerinnen und Schüler (10.115 Gymnasiasten und 5.668 Hauptschüler). Da in PISA-E Einzelschulen als primäre Stichprobeneinheit verwendet wurden, sind aufgrund der Klumpung der Stichprobe Designeffekte zu erwarten. Bei allen Analysen wurden deshalb Prozeduren verwendet, die es erlauben, bei der Schätzung von Standardfehlern und Signifikanzprüfungen den Designeffekt zu berücksichtigen. Dazu wurde das für die Analysen verwendete Programm Mplus (Version 5.21; Muthén & Muthén, 19982009) über die Analyseoption "type= complex" angewiesen, für den Designeffekt korrigierte Standardfehler auszugeben. Alle Berechnungen wurden mit dem Maximum-Likelihood-Verfahren (ML) durchgeführt. Zur Berücksichtigung fehlender Werte wurde das in Mplus implementierte Full-Information-MaximumLikelihood- Verfahren (FIML) angewendet, mit dem auf der Grundlage der Rohdaten und unter der missing-at-random-Annahme erwartungstreue und effiziente Parameterschätzungen erfolgen. Indirekte Effekte wurden in Mplus über die Option "Model Indirect" berechnet. Zur Beurteilung der Modellgüte werden neben dem für Stichprobengrößen sensitiven %2-Test der Comparative-Fit-Index (CFI), der Root Mean Square Error of Approximation (RMSEA) und der Standardized Root Mean Square Residual (SRMR) verwendet. Von einer guten Modellanpassung ist bei einem CFI > .95, RMSEA < .06 bzw. einem SRMR < .05 auszugehen (Marsh et al., 1988; Hu Sr Rentier, 1999).
4.1 Variablen
Strukturmerkmale familiärer Lebensverhältnisse
Zur Messung des familiären sozioökonomischen Status wurde der von Ganzeboom et al. (1992) entwickelte International Socio-Economie Index of Occupational Status (ISEI) herangezogen. Dabei wurde aus den für beide Elternteile vorliegenden Werten jeweils ein Wert für den höchsten sozioökonomischen Status in der Familie gebildet. Das familiäre Bildungsniveau wurde durch den höchsten Bildungsabschluss in der Familie indiziert (y-stufiges Format: (i) Hauptschulbesuch ohne Lehre, (2) Hauptschulbesuch mit Lehre, (3) Realschulbesuch mit und ohne Lehre, (4) Haupt- oder Realschulabschluss mit anschließendem Fachschulbesuch, (5) Abitur ohne Studium, (6) Fachhochschulabschluss, (7) Besuch einer wissenschaftlichen Hochschule). Der familiäre Migrationsstatus wird in einem dreistufigen Format beschrieben ((i) kein Elternteil, (2) ein Elternteil, (3) beide Eltern im Ausland geboren).
Prozessmerkmale familiärer Lebensverhältnisse
Die familiäre kulturelle Praxis wurde über Schülerauskünfte zu familiären kulturellen Ressourcen (3 Items) und kulturellen Aktivitäten (3 Items) latent modelliert. Dazu wurde beispielsweise nach dem Vorhandensein von Kulturgütern ("Gibt es bei dir zu Hause Bücher mit Gedichten?" - Dichotomes Antwortformat) und nach der Häufigkeit kultureller Aktivitäten ("Wie oft hast du im letzten Jahr ein Theater besucht?" - 4-stufiges Antwortformat: (l) nie oder fast nie, (2) etwa l- bis 2-mal im Jahr, (3) 3- bis 4-mal im Jahr, (4) mehr als 4-mal im Jahr) gefragt. Zur Beschreibung der familiären kommunikativen Praxis wurden aus Fragen zum Stil und zur Intensität familiärer Kommunikation (4 Items) zwei Parcels (zur Verbesserung der psychometrischen Eigenschaften des Konstrukts (Littie, Cunningham, Shahar Sr Widaman, 2002)) für die latente Modellierung gebildet (Beispielitem: "Wie oft kommt es im Allgemeinen vor, dass deine Eltern mit dir über politische oder soziale Fragen diskutieren?" - 5-stufiges Antwortformat: (i) nie oder fast nie, (2) ein paar mal im Jahr, (3) etwa einmal im Monat, (4) mehrmals im Monat, (5) mehrmals in der Woche).
Leseleistung und soziale Kompetenz
Zur latenten Modellierung der Leseleistung wurden drei Lesekompetenz-Indikatoren herangezogen (Informationsentnahme, Textimmanente Interpretation, Reflektieren und Bewerten - jeweils rasch-skalierte Werte). Verwendet wurde jeweils der erste von fünf plausible values der mit den Rohdaten ermittelten Lesescores. Kontrollanalysen mit den vier alternativen plausible values wiesen auf die Stabilität der Berechnungen hin.
Die latente Modellierung der sozialen Kompetenz erfolgt über Items zur Unterstützung und zur Normeinhaltung im Klassenverband und gegenüber Gleichaltrigen. Bezüglich des Unterstützungsverhaltens in der Klasse wurde beispielsweise gefragt: "Wie oft versuchst du deinen Mitschülern zu helfen, neue Dinge zu lernen?". Hinsichtlich der Normeinhaltung gegenüber Gleichaltrigen lautet ein Beispielitem: "Wie oft versuchst du Dinge zu tun, die du anderen Jugendlichen versprochen hast?" (s-stufiges Antwortformat: (i) nie, (2) selten, (3) manchmal, (4) oft, (5) immer). Stanat und Kunter (2001) konnten im Rahmen einer Validierungsstudie zeigen, dass Schülerselbstauskünfte zum Sozialverhalten (wie sie in PISA-2000 gemessen wurden) zumindest moderat mit zusätzlich erhobenen Fremdeinschätzungen von Lehrkräften korrelieren. Die stärksten korrelativen Zusammenhänge (zwischen .23 und .33) in der Dimension "soziale Kompetenz und prosoziales Verhalten" zeigten sich für die hier verwendeten Indikatoren des Unterstützungsverhaltens und der Normeinhaltung gegenüber Gleichaltrigen und im Unterricht.
4.2 Statistisches Vorgehen
Die Zusammenhänge zwischen den Struktur- und Prozessmerkmalen familiärer Herkunfts- bzw. Lebensverhältnisse und den Bildungskompetenzen (Leseleistung und soziale Kompetenz) werden mit latenten Mehrgruppen-Strukturgleichungsmodellen untersucht. Die für den Strukturgleichungsansatz bezeichnende Differenzierung von Mess- und Strukturmodell führt durch die im Messmodell spezifizierte Beziehung von manifesten und latenten Variablen im Strukturmodell zu einer messfehlerbereinigten Schätzung der Pfadkoeffizienten. Als Gruppierungsvariable füngiert die besuchte Schulform (1= Hauptschule, 2=Gymnasium). Als exogene Variablen gehen der höchste familiäre sozioökonomische Status, der höchste familiäre Bildungsabschluss sowie der Migrationsstatus der Familie in das Modell ein. Von diesen exogenen Variablen gehen direkte Pfade auf die familiären Prozessmerkmale (kulturelle und kommunikative Praxis) und die Merkmale des Bildungserwerbs (Leseleistung und soziale Kompetenz). Weiter wurden Pfade von den Prozessmerkmalen auf die Merkmale des Bildungserwerbs spezifiziert. Somit lassen sich die familiären Prozessmerkmale als Vermittler zwischen Struktur- und Kompetenzindikatoren interpretieren.
Um festzustellen, ob bedeutsame Unterschiede zwischen Hauptschulen und Gymnasien vorliegen, wird in einem zweiten Schritt geprüft, ob signifikante Interaktionseffekte zwischen der Schulform (Gymnasium/Hauptschule) und den Prozessmerkmalen familiärer Herkunftsverhältnisse (kulturelle bzw. kommunikative Praxis) vorliegen. Dazu wurden Regressionen auf die Leseleistung und auf die soziale Kompetenz berechnet, in die neben den Struktur- und Prozessmerkmalen familiärer Lebensverhältnisse (SES, elterliche Bildung, Migrationsstatus) die Schulform dummy-cothert (o=Gymnasium, 1= Hauptschule) sowie die Interaktionsterme Schulform*kulturelle Praxis und Schulform*kommunikative Praxis eingingen. Dieses statistische Vorgehen ermöglicht eine signifikanzstatistische Überprüfung der Interaktionseffekte der Schulform mit den Prozessmerkmalen familiärer Herkunftsverhältnisse (kulturelle und kommunikative Praxis) und zugleich eine Kontrolle der Haupteffekte der kulturellen und kommunikativen Praxis sowie der Schulform, die im Mehrgruppenmodell nur innerhalb der Gruppen geschätzt werden.
5. Ergebnisse
Messmodell
Die Modelle für die Gymnasien und Hauptschulen wurden im Mehrgruppenmodell simultan angepasst. Dabei wurde über die Gruppen hinweg von einer t-Äquivalenz der Messung ausgegangen, das heißt, es wurden für beide Gruppen identische Faktorladungen bei frei geschätzten Messfehlern berechnet. Da die Invarianz der Faktorladungen eine notwendige Voraussetzung für eine vergleichende Interpretation der Parameter des Strukturmodells ist, wurde die Annahme der tÄquivalenz gegenüber einem weniger restriktiven Modell mit frei geschätzten Faktorladungen getestet. Dabei erwies sich das restriktivere Modell als nicht signifikant schlechter als das weniger restringierte. Die Parameter des Messmodells sind in Tabelle i abgebildet. Zugleich weisen auch die Modellgütekriterien auf eine gute Passung des Modells mit den Daten hin (χ^sup 2^^sub (.001;132,N = 15783)^ = 2259.7; CFI = .96; RMSFA = .045, SRMR = .056). Die standardisierten Itemladungen variieren an Hauptschulen zwischen .51 und .93, an Gymnasien zwischen .54 und .95. Alle Faktorladungen sind statistisch signifikant und hinreichend groß.
Deskriptive Statistiken
Um einen ersten Eindruck von den Zusammenhängen zwischen den untersuchten Indikatoren zu erhalten, sind neben statistischen Kennwerten auch die bivariaten Zusammenhänge als modellimplizite (latente) Interkorrelationen nach besuchter Schulform (Gymnasium/Hauptschule) in Tabelle 2 zusammengefasst dargestellt.
Obwohl an Hauptschulen durchweg niedrigere Mittelwerte erreicht werden als an den Gymnasien (mit Ausnahme des familiären Migrationsstatus), weisen die Indikatoren sowohl an den Hauptschulen als auch an den Gymnasien hinreichende Variabilitäten auf. Die Standardabweichung der erklärenden Variablen des elterlichen Bildungsniveaus (1.2 vs .99), des familiären Migrationsstatus (.91 vs .57) und der kommunikativen Praxis (.68 vs .55) sind an Hauptschulen sogar höher als am Gymnasium. Es ist deshalb nicht anzunehmen, dass sich Unterschiede zwischen den Schulformen auf eine unzureichende Variabilität, beispielsweise hinsichtlich der familiären Prozessmerkmale an Hauptschulen, zurückführen lassen.
Hervorzuheben ist in Hinblick auf die anberaumten Untersuchungsfragen die enge Verknüpfung der kulturellen Praxis mit dem sozioökonomischen Status und dem familiären Bildungsniveau einerseits sowie der Leseleistung und der sozialen Kompetenz (an Gymnasien) auf der anderen Seite. Obwohl die kulturelle und kommunikative Praxis hoch miteinander korrelieren, zeigt sich für die kommunikative Praxis nur für den Bereich der sozialen Kompetenz ein bedeutsamer korrelativer Zusammenhang. Abgesehen davon lässt sich eine für schulformspezifische Untersuchungen typische, vergleichsweise niedrige Kopplung von der Leseleistung und den Strukturmerkmalen familiärer Herkunftsverhältnisse (SES, Bildungsniveau) feststellen.
Struktur yleichung smodelle
Bei den in Abbildung 2 und Abbildung 3 dargestellten standardisierten Pfadkoeffizienten des Strukturmodells wurden sämtliche Pfade über die Gruppen (Gymnasium/Hauptschule) frei geschätzt. Abgebildet sind die Korrelationen zwischen den manifesten Strukturmerkmalen familiärer Herkunftsverhältnisse, die Residualvarianzen der latenten Variablen sowie die Residualkorrelationen zwischen den Prozessmerkmalen und den Bildungsindikatoren.
Auffällig ist zunächst, dass innerhalb von Schulformen von einer gewissen Entkopplung der sozialen Herkunft und dem Bildungserwerb ausgegangen werden kann. Dies zeigt sich in den vergleichsweise niedrigen multiplen Determinationskoeffizienten der Leseleistung und der sozialen Kompetenz. Der durch die Modellvariablen aufgeklärte Varianzanteil der Lesekompetenz liegt mit 11 Prozent sogar noch 4 bzw. 3 Prozentpunkte unter dem der sozialen Kompetenz. Die aufgeklärten Varianzanteile liegen damit deutlich unter den Werten, die in schulformübergreifenden Untersuchungen gefunden werden. Watermann und Baumert (2006) berichten beispielsweise Varianzaufklärungen im Bereich von 25 Prozent für die Leseleistung. Nichtsdestotrotz erweisen sich familiäre Prozessmerkmale auch unier Kontrolle der Schulform als relevante Mediatoren des Einflusses familiärer Strukturmerkmale auf den Bildungserwerb.
An Gymnasien zeigt sich ein bekanntes Bild: Die Effekte familiärer Herkunftsverhältnisse sind im Wesentlichen über familiäre Prozessmerkmale vermittelt. Dabei kommt der familiären kulturellen Praxis bezüglich ihres Effekts sowohl auf die Leseleitung (.25) als auch auf die soziale Kompetenz (.37) die größte Rolle zu. Der direkte Pfad vom sozioökonomischen Status auf die Leseleistung wird nicht einmal mehr signifikant. Annahmegerecht findet sich am Gymnasium kein Effekt der kommunikativen Praxis auf die Leseleistung, dafür aber ein Effekt kommunikativer Praxis auf die soziale Kompetenz (.18).
Ein anderes Bild ergibt sich für die Hauptschulen: Zwar zeigen sich auch hier die Effekte familiärer Herkunftsverhältnisse über familiäre Prozessmerkmale mediiert. Auffallend ist aber der vergleichsweise starke Einfluss der familiären kommunikativen Praxis. Der Effekt der kulturellen Praxis auf die Leseleistung lässt sich nicht einmal bei einer Stichprobengröße von N > 5000 nachweisen. Stattdessen zeigen sich signifikante Effekte der kommunikativen Praxis sowohl auf die Leseleistung (.11) als auch auf die soziale Kompetenz (.20).
Tabelle 3 berichtet die indirekten Effekte der familiären Praxen für den sozioökonomischen Status (SES) auf die Leseleistung und die soziale Kompetenz. An den Gymnasien wird der Zusammenhang von SES und Leseleistung über die kulturelle Praxis (.08), aber nicht über die kommunikative Praxis (.00, nicht signifikant) mediiert. Der Zusammenhang von SES und sozialer Kompetenz ist hauptsächlich über die kulturelle Praxis (.11) vermittelt. An den Hauptschulen kommt der kulturellen Praxis keine (.00, nicht signifikant), der kommunikativen Praxis eine geringe (.01) Mediatorfunktion hinsichtlich des Zusammenhangs von SES und Leseleistung zu. Stattdessen zeigt sich die kulturelle Praxis als relevanter Mediator (.04) des SES auf die soziale Kompetenz. Der vermittelnde Einfluss der kommunikativen Praxis bleibt gering (.01).
Zusätzliche Analysen, bei denen zur Berücksichtigung der Eingangsselektivität der Schulformen für die kognitiven Grundfähigkeiten kontrolliert wurde, wiesen auf die Stabilität der Resultate hin. An Gymnasien zeigt sich auch unter Kontrolle kognitiver Grundfähigkeiten ein schwacher (.08) aber weiterhin signifikanter Effekt der kulturellen Praxis auf die Leseleistung. An den Hauptschulen bleibt der Effekt kultureller Praxis auf die Leseleistung insignifikant, der Effekt der kulturellen Praxis auf die soziale Kompetenz wird etwas geringer (.13). Der Zusammenhang von familiären Praxen und der sozialen Kompetenz wird in beiden Schulformen durch die Kontrolle kognitiver Grundfähigkeiten nicht wesentlich beeinflusst.
Interaktionseffekte
Wie in Tabelle 4 dargestellt, erweisen sich die Unterschiede der Effekte kultureller und kommunikativer Praxen an Hauptschulen und Gymnasien als statistisch signifikant.
Geprüft wird, ob sich der Einfluss (kultureller und kommunikativer) familiärer Praxen über die Schulform (Gymnasium/Hauptschule) unterscheidet. Dazu wurden multiple lineare Regressionen auf die Leseleistung bzw. auf die soziale Kompetenz berechnet, in die einerseits der familiäre sozioökonomische Status, das familiäre Bildungsniveau sowie der Migrationsstatus eingingen. Darüber hinaus wurde die familiäre kulturelle und kommunikative Praxis (jeweils latent gebildet) und die Schulform (dummy-cothert: Gymnasium = o, Hauptschule = l) mit in die Regression aufgenommen. Mit Hilfe der Interaktionsterme Schulform*kulturelle Praxis und Schulform*kommunikative Praxis wird getestet, ob sich Gymnasien und Hauptschulen hinsichtlich der Wirkung familiärer Praxen unter Kontrolle der Haupteffekte unterscheiden.
Tatsächlich werden die Koeffizienten der Interaktionsterme Schulform*kulturelle Praxis bzw. Schulform*kommunikative Praxis für die Leseleistung hochsignifikant. Die Wirkung familiärer Praxen auf die Leseleistung unterscheidet sich an Gymnasien und Hauptschulen sowohl hinsichtlich der kulturellen als auch hinsichtlich der kommunikativen familiären Praxis. Betrachtet man den negativen Koeffizienten des Interaktionsterms Schulform*kulturelle Praxis (-17.3), heißt das, dass sich Hauptschulen und Gymnasien hinsichtlich des Haupteffekts der Schulform im Mittel um 162 Punkte im PISA-Lesescore unterscheiden, dieser Unterschied aber bei steigender kultureller Praxis zu Gunsten der Gymnasien anwächst. Im Gegensatz dazu weist der positive Koeffizient des Interaktionsterms Schulform*kommunikative Praxis (6.8) auf einen aus der Perspektive der Hauptschulen kompensatorischen Effekt hin: Der Unterschied in der Leseleistung zwischen Gymnasien und Hauptschulen verringert sich mit ansteigender kommunikativer Praxis.
Für die soziale Kompetenz wird nur die Interaktion Schulform*kommunikative Praxis statistisch signifikant. Hauptschulen und Gymnasien unterscheiden sich in der Wirkung familiärer Praxen auf soziale Kompetenzen nur hinsichtlich der familiären kommunikativen, nicht aber hinsichtlich der familiären kulturellen Praxis.
6. Zusammenfassung, Diskussion und Ausblick
Untersucht wurde das Zusammenspiel struktureller und prozessualer Merkmale bezüglich des Zusammenhangs familiärer Herkunftsverhältnisse und des Bildungserwerbs (Leseleistung und soziale Kompetenz). Dazu wurde zum einen mit Bezug auf Bourdieu und Colemann der Frage nachgegangen, ob die maßgebliche Rolle familiärer kultureller Praxen bei der Vermittlung struktureller Herkunftseffekte auf den Kompetenzerwerb für familiäre kommunikative Praxen bezüglich der Vermittlung von Herkunftsbedingungen auf die Entwicklung sozialer Kompetenzen nachgebildet werden kann. Zum anderen wurde im Anschluss an Bronfenbrenners Ökologie der menschlichen Entwicklung gefragt, ob differenzielle Entwicklungen in privilegierten bzw. benachteiligten Schulumwelten gefunden werden können, die sich als Effekt unterschiedlicher Wirkungsmechanismen interpretieren lassen. Für beide Untersuchungsperspektiven konnten empirische Evidenzen gefunden werden.
Hinsichtlich der bourdieuschen These einer Mediatorfunktion familiärer Transmissionsprozesse konnte für Indikatoren der kulturellen und kommunikativen Praxen eine bedeutsame Vorhersagekraft für den Bildungserwerb 15-jähriger Schülerinnen und Schüler von Hauptschulen und Gymnasien nachgewiesen werden. Für die Gruppe der Gymnasien wurde mit der hervorgehobenen Rolle der kulturellen Praxis ein Ergebnis früherer Forschung - dort allerdings in Schulform übergreifenden Untersuchungen - bestätigend repliziert. Darüber hinaus kommt der familiären kulturellen Praxis auch für die Entwicklung sozialer Kompetenzen an Gymnasien die Hauptvermittlerrolle zu. Für die Rolle der nach Coleman operationalisierten kommunikativen Praxis konnte in der gymnasialen Gruppe nur ein Effekt auf den Bereich sozialer Kompetenzen festgestellt werden.
An Hauptschulen zeigten sich dagegen differenzielle Ergebnisse. Während sich der Effekt der kulturellen Praxis nur für den Bereich sozialer Kompetenz findet, zeigt sich für die familiäre kommunikative Praxis sowohl ein Effekt auf die soziale Kompetenz als auch ein, wenn auch schwacher, Effekt auf die Leseleistung. Zusammengefasst zeigen sich die Vermittlerrollen familiärer Praxen, sowohl hinsichtlich kultureller als auch sozialer Kapitalien, als empirisch gut bewährt. Über die Operationalisierung sozialer Kompetenzen ließ sich annahmegerecht eine empirische Bestätigung für die vermittelnde Wirkung des sozialen Kapitals nachweisen.
Der Einfluss familiärer Herkunftsmerkmale auf den Bildungserwerb ist für die Bildungsforschung kein neuer Befund. Neu hingegen ist, dass sich Effekte familiärer Herkunfts- bzw. Lebensverhältnisse auch in schulformspezifischen Settings zeigen. Dies mag einerseits der latenten Modellierung, also einer methodischen Ursache, geschuldet sein. Andererseits spielen aber auch inhaltliche Erwägungen eine Rolle: Die Wirkung familiärer Strukturmerkmale auf den Bildungserwerb ist über familiäre Prozessmerkmale (kulturelle und kommunikative Praxis) vermittelt, deren Einflüsse innerhalb von Schulformen in bisherigen Arbeiten kaum berücksichtigt wurden. Das aber heißt, dass mit Bourdieu davon auszugehen ist, dass erst die aktive Nutzung, nicht die bloße Verfügbarkeit einer kulturellen oder sozialen familiären Infrastruktur, Wirkungen auf den Erwerb von Lese- und sozialer Kompetenz auszuüben vermag.
Die zweite Untersuchungsperspektive richtete sich auf differenzielle Effekte familiärer Lebenspraxen in privilegierten und benachteiligten Schulumwelten. Dazu wurde im Anschluss an Bronfenbrenner der These nachgegangen, dass Lebenspraxen - beziehungsweise "proximale Prozesse" in bronfenbrenner' scher Diktion - ihren Einfluss in privilegierten Umwelten über eine Kompetenzentwicklung, in benachteiligten Umwelten dagegen über Dysfunktionshemmungen entfalten.
Betrachtet man die jeweils unterschiedlichen Wirkungen kultureller und kommunikativer Praxen an Hauptschulen und Gymnasien, können für die differenziellen Befunde tatsächlich unterschiedliche Wirkungsmechanismen verantwortlich gemacht werden. Die stärkere Wirkung kultureller Praxis in der privilegierten, gymnasialen Umwelt ließe sich dahingehend als ein Matthäuseffekt ("Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, dass er Fülle habe" Mt 25,29) interpretieren, dass sich das Vorhandensein und die aktive Nutzung kultureller Möglichkeiten zugleich positiv - als ein additiver Effekt - auf den Erwerb der Lesekompetenz auswirkt. Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, die aufgrund ihrer herkunftsbedingten Lebensverhältnisse bereits über vergleichsweise mehr kulturelles Kapital verfügen, können das ihnen zur Verfügung stehende kulturelle Kapital erfolgreich für den Erwerb der Lesekompetenz nutzen. Es ist anzunehmen, dass sich ein solcher Zusammenhang eher verstärkend auf soziale Disparitäten im Bildungssystem auswirkt.
Demgegenüber zeigt sich an Hauptschulen gerade kein Effekt der kulturellen Praxis auf die Leseleistung. Der stattdessen auftretende vergleichsweise bedeutsamere Einfluss der familiären kommunikativen Praxis weist auf einen spezifisch anderen Mechanismus zur Erklärung familiärer Transmissionsprozesse in eher benachteiligten Umwelten. Da das soziale Kapital in der Familie nach Coleman über die in den Familien herrschenden kommunikativen Stile und deren Intensität operationalisiert wurde, lässt sich der hinter dem Effekt stehende Mechanismus im Anschluss an Bronfenbrenner als Hemmung von sozialen Dysfunktionen über kommunikative Mittel zur sozialen Kontrolle interpretieren. Hauptschülerinnen und Hauptschülern, die mit ihren Eltern relativ häufiger über politische und soziale Themen diskutieren, gelingt es besser, verfügbare Kapitalien in die Entwicklung sozialer Kompetenzen zu investieren. Mit Bronfenbrenner ließe sich hierbei von einer kommunikativ indizierten Kontrolle in der Familie auf eine Verminderung von Selbstkontroll- oder Integrationsproblemen schließen, durch die die Entwicklung prosozialen Verhaltens unterstützt wird.
Insgesamt wird deutlich, dass in Untersuchungen, die auf eine angemessene Modellierung des schulformspezifischen Kontextes verzichten, mit Fehlspezifikationen zu rechnen ist. Der Zusammenhang von familiären Herkunftsverhältnissen und der Leseleistung zeigt sich unter Kontrolle der Schulform nicht etwa deswegen nicht, weil er nicht vorhanden ist (Schnabel et al-, 2002), sondern weil damit einem Wirkungsmechanismus nachgegangen wird, mit dem zunächst in bevorteilten schulischen Umwelten zu rechnen ist. In ähnlicher Weise lässt sich auch der Einfluss familiärer kommunikativer Praxis gerade nicht in allen und über alle schulischen Kontexte auffinden. Stattdessen entfaltet sie ihre (dysfunktionshemmende) Wirkung insbesondere in benachteiligten Umwelten.
Grenzen der Untersuchung
Untersucht wurde ein für Deutschland repräsentativer Querschnitt 15-jähriger Schülerinnen und Schüler. Die Zusammenhänge von (personalen und prozessualen) Herkunftsmerkmalen und dem Bildungserwerb lassen sich deshalb nicht als Entwicklung oder kausaler Einfluss interpretieren. Vielmehr ist bei einer querschnittlichen Untersuchung mit einer Konfundierung der Ergebnisse mit personalen Eingangsvoraussetzungen zu rechnen, für die im PISA-Datensatz nicht kontrolliert werden kann.
Zwar wurde im statistischen Vorgehen darauf geachtet, die Stichprobenklumpung zu berücksichtigen. Trotzdem lassen sich Effekte der Schülerinnenkomposition und der institutionellen Einflüsse auf Schulebene mit der hier gewählten Analysestrategie nicht von Effekten auf der Individualebene trennen. Anzunehmen ist, dass es sowohl bedeutsame kompositioneile (z.B. hinsichtlich des mittleren Klassen-SES), als auch institutionelle Einflüsse (z.B. hinsichtlich des Schulklimas) auf der Aggregatebene gibt.
Die Modellierung differenzieller Entwicklungsumwelten gelingt über die Schulform wahrscheinlich nur näherungsweise bzw. zu pauschal. Zwar weisen diverse Untersuchungen darauf hin, dass die Schulform einen maßgeblichen Einfluss auf die Lernentwicklung ausübt (Baumert et al., 2006; Neumann et al., 2007). Trotzdem kann vermutlich nicht davon ausgegangen werden, dass Hauptschulen je nach Haltekraft in den verschiedenen Bundesländern sich entsprechende Entwicklungsumwelten darstellen. Auch die im Sinne Bronfenbrenners hier nur als theoretisches Angebot auffassbaren postulierten Erklärungsansätze differenzieller Wirkungsmechanismen bedürfen weiterer Fundierung.
Untersuchungsperspektiven
Die vorliegende Untersuchung bietet ein breites Spektrum möglicher Anschlussuntersuchungen. Zunächst erscheint die Reproduktion der Untersuchungsergebnisse an nationalen Daten (z.B. PISA-2003/2006) oder internationalen Daten (alternative Staaten mit gegliederten Schulsystemen) notwendig und wünschenswert. Hinsichtlich der angesprochenen Defizite einer querschnittlichen Analysestrategie ließe sich darüber hinaus die Entwicklung des Bildungserwerbs erst in einem längsschnittlichen Design angemessen abbilden und nachvollziehen.
Zur Trennung von Effekten auf personaler, kompositioneller und institutioneller Ebene sind Analysen in Mehrebenenmodellen notwendig. Ebenso ließen sich die hier nur pauschal modellierten schulischen Entwicklungsumwelten auf der Aggregatebene um Indikatoren erweitern, mit denen es gelingen sollte, bevorteilte bzw. benachteiligte schulische Umwelten präziser zu spezifizieren. Zu denken wäre hierbei beispielsweise an Maße, die über Stabilitäten bzw. Instabilitäten der individuellen Schule Auskunft geben oder an Merkmale, die die wahrgenommene Lernatmosphäre indizieren. Schlussendlich wäre es wünschenswert, den hier nur vage bestimmten Begriff differenzieller Wirkungsmechanismen weiter theoretisch zu klären.
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Markus Szczesny, MA. (corresponding author) · Prof. Dr. Rainer Watermann, Georg-AugustUniversität Göttingen, Pädagogisches Seminar, Waldweg 26, 37073 Göttingen, Deutschland
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Copyright Waxmann Verlag GmbH 2011
Abstract
Social disparities of educational participation and school achievement have proven as highly stable over the last decades. To explain this fact the school system can be made responsible for reproducing social inequality; as another effect familial transmission can be brought into account. In the study presented here both perspectives are linked together: What is the impact of structural and process-based characteristics of families in different school environments on reading performance and social skills? The study examines N = 15,783 students of different school types (Hauptschule/ Gymnasium) of PISA 2000-E. Multi-group structural equation models show differential effects of family background and school type. [PUBLICATION ABSTRACT]
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