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Andrea Marien Esser: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart. Stuttgart-Bad Canstatt: frommann-holzboog 2004 (Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus. Abt. II: Untersuchungen, Bd. 53), 436 Seiten. ISBN 3-7728-2237-1.
Die Tugendethik hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Renaissance erlebt und steht heute der prinzipienbezogenen Moralphilosophie an Einfluss sicherlich kaum noch nach. Als wichtigster Vertreter der Prinzipienethik, deren vorgebliche Abstraktheit und Praxisferne die Tugendethik zu überwinden sucht, gilt - neben den Utilitaristen - Kant. Seiner Moralphilosophie wird noch immer vorgeworfen, dass sie formalistisch sei und der Komplexität moralischer Entscheidungen nicht gerecht werde. Ein Grund dafür, dass diese Vorurteile so langlebig sind, liegt sicherlich darin, dass sich die Rezeption der kantischen Ethik stark auf die beiden Grundlegungsschriften, die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und die Kritik der praktischen Vernunft, konzentriert und dass ihrem materialen Teil zu wenig Beachtung geschenkt wird. Kants Tugendlehre wird selbst von bedeutenden Kant-Forschern stiefmütterlich behandelt. Diesem Mangel will Andrea Esser mit der vorliegenden Studie abhelfen. In ihrer Untersuchung versucht sie nachzuweisen, dass Kants Moralphilosophie das verbreitete Bedürfnis nach Anwendbarkeit und Praxisnähe ethischer Theorien zu erfüllen vermag. Um zu diesem Beweisziel zu gelangen, schlägt die Verfasserin allerdings einen weiten Umweg ein.
Im ersten Kapitel, das etwa 130 Seiten umfasst, prüft sie, ob sich die Tugendethik der Gegenwart zu Recht auf Aristoteles als Gewährsmann beruft. In ihrer kritischen Analyse, in der sie sich u.a. mit Anscombe, Maclntyre, Nussbaum und Williams auseinandersetzt, gelangt sie in Bezug auf diese Frage zu einem negativen Resultat. Im Gegensatz zu der sich als aristotelisch verstehenden gegenwärtigen Tugendethik habe Aristoteles auf geläufige Meinungen und die moralische Tradition einer Gemeinschaft nur innerhalb eines normierenden Rahmens Bezug genommen, er habe diese jedoch nicht als Grundlage ethischer Orientierung angesehen (45). Stattdessen habe er seine Ethik "aus dem Wesensbegriff des Menschen" entwickelt (49). Die Bestimmung des als Telos aufgefassten Wesens des Menschen sei nach Aristoteles aber nicht Aufgabe der Ethik, sondern der Metaphysik gewesen (92). Der gegenwärtigen Tugendethik fehle hingegen aufgrund ihres Verzichts auf eine metaphysische Begründung eine Instanz, die es erlauben würde, die moralische Tradition mittels eines vernünftigen Maßstabs kritisch zu beurteilen:
Wenn also die Tugendethik Metaphysikfreiheit dadurch erlangen will, daß sie den teleologischen Rahmen der Aristotelischen Ethik negiert und den Tugendbegriff lediglich aus gegebenen Meinungen begriffsanalytisch rekonstruiert, so beraubt sie...