Content area
Full text
Berlin J Soziol (2015) 24:599603 DOI 10.1007/s11609-014-0263-6
IN MEMORIAM M. RAINER LEPSIUS (19282014)
Online publiziert: 12. Februar 2015 Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
M. Rainer Lepsius verfgte ber eine einzigartige soziologische Prognosefhigkeit. Noch bevor sich historische Umbrche zur Deutlichkeit entwickelt hatten, erkannte er oft bereits deren Zukunftspotenzial. Ich erinnere mich an zwei Situationen aus dem Jahre 1989. Lepsius nahm damals eine Gastprofessur am Europischen Hochschulinstitut in Florenz wahr. Im April, nach einer Reise in die DDR anlsslich eines Symposions ber Max Weber, sagte er bereits den Zusammenbruch des SED- Regimes voraus. Er hatte mit vielen Leuten gesprochen und den Eindruck gewonnen, das SED-Regime sei am Ende. Aber auch die epochale Bedeutung, welche die europische Einigung einst haben wrde, erkannte Lepsius lange bevor sich deren revolutionierende Dynamik in ihrer ganzen Tragweite manifestiert hatte: Mit der ihm eigenen kommunikativen Verve und Eindringlichkeit versuchte er bei meiner Promotionsfeier in einem Florentiner Restaurant, die versammelten Mitglieder des examining board Birgitta Nedelmann, Philippe C. Schmitter und Pietro Rossi und mich von dem bis dahin kaum beachteten Entwicklungspotenzial der Europischen Wirtschaftsgemeinschaft zu berzeugen. Das war damals keineswegs unmittelbar plausibel. Das Europathema war, zumal in Deutschland, noch ein marginales Spezialgebiet der Rechts- und Politikwissenschaft, weit entfernt davon, als eigenstndiges Forschungsfeld etabliert zu werden. Fr die Soziologie war die Integration Europas so gut wie inexistent. Doch Lepsius erwartete fr die supranationale Zweckvereinigung nicht nur eine bedeutende institutionelle und politische Zukunft, sondern auch tiefgreifende Auswirkungen auf die Gesellschaften Europas.
Anfang 1990 verffentlichte er seine ersten soziologischen Aufstze zu dieser Thematik, darunter so wegweisende Beitrge wie Der europische Nationalstaat: Erbe und Zukunft (Lepsius 1990, S. 256 ff.), Nationalstaat oder Nationalittenstaat als Modell fr die Weiterentwicklung der Europischen Gemein-
M. Bach ()
Passau, DeutschlandE-Mail: [email protected]
M. Rainer Lepsius und die Begrndung der soziologischen Europaforschung
Maurizio Bach
1 3
600 M. Bach
schaft (Lepsius 1991a, S. 19 ff.) oder auch Die Europische Gemeinschaft: Ratio-nalittskriterien der Regimebildung (Lepsius 1991b, S. 309 ff.). Darin reektierte er den ersten Quantensprung in der Entwicklungsgeschichte der europischen Integration, der mit dem Vertrag von Maastricht vollzogen wurde. Sein geschrfter und weitsichtiger Blick auf die trans- und supranationalen Entwicklungen verdankte sich nicht zuletzt seinen vorangegangenen historisch-soziologischen Studien zur nationalen Frage und zu Problemen der Staatswerdung. Lepsius hatte sich bereits Ende der 1960er Jahre wissenschaftliche Anerkennung...