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JENNY ALWART: Mit Taras Sevcenko Staat machen. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in der Ukraine vor und nach 1991. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. 220 S., 47 Abb. = Visuelle Geschichtskultur, 8. ISBN: 978-3-412-20769-4.
Der ukrainische Schriftsteller und Maler Taras Sevcenko (1814-1861) ist in seiner Bedeutung für die Entwicklung der ukrainischen Literatur und Schriftsprache wenigstens mit der seines Zeitgenossen Alexander Puskin im russischen Kontext zu vergleichen. Doch anders als jener, welcher auch außerhalb der russischsprachigen Welt ein Begriff ist und dessen Werk immer wieder übersetzt wird, ist Sevcenko außerhalb Osteuropas nur wenigen Eingeweihten überhaupt bekannt. So kommt es, dass die Bewohner des deutschsprachigen Raums auf die Frage nach den ihnen geläufigen Ukrainern vermutlich die boxenden Gebrüder Klycko nennen würden oder aber den Namensvetter des Künstlers, nämlich den 1976 geborenen Fußballer Andrij Sevcenko. Und obgleich die ukrainische Literatur sich seit einiger Zeit erfreulicherweise auch bei uns eines immerhin gewissen Interesses erfreut und die Werke Jurij Andruchovycs, Andrij Kurkovs oder Serhij Zadans regelmäßig ins Deutsche übersetzt werden, gibt es seit Jahrzehnten keine Neuübersetzungen der Werke des ukrainischen Dichtertitanen. Ganz anders stellt sich seine Bedeutung in der Ukraine dar: keine Stadt ohne ein Sevcenko-Denkmal, eine Gedenktafel oder einen nach ihm benannten Platz. Das Konterfei des Dichters ist wohl jedem Ukrainer, jeder Ukrainerin bekannt, und zumindest das Gedicht Zapovit (Das Vermächtnis) - "Wenn ich tot bin, begrabe mich in meiner geliebten Ukraine" - werden die meisten von ihnen zumindest auszugsweise zitieren können. Für die Leipziger Slavistin Jenny Alwart ist Sevcenko dann auch nichts weniger als ein bedeutender ukrainischer Erinnerungsort. Sevcenko sei die "am stärksten verbindende Figur der Ukraine [...], die Ukraine definiert und reflektiert" sich über sie (S. 25), so ihre zentrale These. In der Tat scheint der Dichter in dem erinnerungskulturell so stark fragmentierten Land ein konsensueller Kristallisationspunkt zu sein;...