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J. Die Doppelfunktion des Kategorischen Imperativs
Der Kategorische Imperativ hat in Kants Ethik eine Doppelfunktion1: Er ist einerseits das oberste Prinzip der Vernunftmoral und zugleich ein Test bzw. eine "Probe" für Maximen des Handelns (MS, AA 06: 225). Bestehen Maximen den Test, dann ist es zulässig oder sogar geboten, nach ihnen zu handeln; bestehen sie den Test nicht, so sind ihnen entsprechende Handlungen unmoralisch und verboten.2
Ob der Kategorische Imperativ tatsächlich als Test funktioniert, ist sehr umstritten. Seit Hegel war es fast ein philosophischer Allgemeinplatz, daß der Kategorische Imperativ, wenigstens in seiner Universalisierungsformel, einen leeren Formalismus darstelle, der als Test kläglich scheitern müsse. "When he [Kant] begins to deduce from this precept any of the actual duties of morality, he fails almost grotesquely"3, schreibt etwa John Stuart Mill. Doch wurden im Zuge des neuen Interesses an Kants Ethik in den letzten Jahren Interpretationen vorgeschlagen, die die Leistungsfähigkeit des Testverfahrens angeblich nachweisen.4
Auch in den folgenden Ausführungen soll es um die Universalisierungsformel als Test gehen. Dabei wird einerseits argumentiert, daß heute gängige Versuche der Rehabilitation des Tests nicht überzeugen können, da sie zu unsinnigen Ergebnissen führen. Andererseits wird eine neue Deutung des Tests vorgeschlagen. Die These dieses Aufsatzes ist, daß der Kategorische Imperativ dann ein erfolgreiches Verfahren zur Selektion moralischer Maximen bietet, wenn die performative Voraussetzung der Wahl von Maximen, nämlich die Freiheit des Wollens, in dem Test Berücksichtigung findet. Der Nachweis wird auch hier anhand der Universalisierungsformel des Kategorischen Imperativs versucht, der nach Kant grundlegenden Formel, von der die anderen abgeleitet werden sollen.5
Die Argumentation für diese These erfolgt in mehreren Schritten. Zunächst werden fünf Kriterien einer erfolgreichen Anwendung des Tests - und damit Interpretation des Kategorischen Imperativs - genannt (II.). Es folgt die Zurückweisung verschiedener Interpretationen des Testverfahrens, weil sie nicht allen Kriterien genügen (III.). Anschließend wird die neue Deutung vorgestellt (IV.) und gezeigt, wie sie den genannten Kriterien gerecht wird (V). Am Schluß steht eine Diskussion moglicher Einwände (VI.) und die Einbettung des so verstandenen Kategorischen Imperativs in Kants Ethik in ihrer Gesamtheit (VII.).
II. Kriterien einer erfolgreichen Anwendung des Kategorischen Imperativs als Test
Ob sich der Kategorische Imperativ als Test bewährt, kann nur entschieden werden, wenn die Kriterien einer erfolgreichen Anwendung genannt werden.
(1) Das erste und entscheidende Kriterium ist, inwiefern...