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Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens Basel/Frankfurt a. M. (Stroemfeld/Nexus) 1995 296 S.
Mit sanfter Ironie führen sie sich ein, die ursprünglich als Vortragsreihe verfaßten Jleden über Rhetorik des Basler Germanisten Wolfram Groddeck: "Wer redet, entdeckt sich" (7). Die Rede ist von einer Entdeckung der Rhetorik beim Lesen. Programmatisch wird in der Vorrede die These vorgebracht, daß die Stilkunst des Lesens nach ähnlichen Gesetzmäßigkeiten vorgehe, "wie sie von der klassischen Rhetorik für die Herstellung einer Rede beschrieben wurden" (16). Solches Lesenlernen wie geschrieben wurde, gilt als pädagogische Leitfigur dieser Einführung in Geschichte, Systembildung und Figurenlehre der Rhetorik von den Anfängen bis zur Gegenwart. Durch ihre präzise und theoretisch erhellende Lektüre exemplarischer Texte gehen diese Reden zur Rhetorik des Lesens über eine Einführung adusum delphini hinaus. Am wenigsten aber wollen sie ein systematisches Handbuch mit knatternden Begriffsdefinitionen sein, wenngleich ein Register (283-287) das einschlägige Vokabular zur Verfügung hält Als handliches Lesebuch zur Rhetorik hat es seinem Vorbild, dem als "unersetzlich" ausgelobtren Handbuch der literarischen Rhetorik von Heinrich Lausberg1, zweierlei voraus: Es leidet nicht unter einer schrulligen "Benutzeroberfläche" (82), und es zeigt ein theoretisches Interesse für die "lebendige Erfahrung" (ebd.) des Lesens selbst, ohne dabei den philologischen Sachverstand im geringsten zurückzustellen.
Wie sehr sich dieses Buch indes gegen jene Systematik sträubt, die es schließlich in geläuterter Form verwendet, läßt sich bereits an der Ordnung der Kapitel erkennen: Zählt man die Vorrede (7-17) mit, sind den insgesamt fünf Rubriken zu Geschichte (21-78), System (81-115), Figuren (119-202) und Tropen (205-281) je fünf Kapitel untergeordnet, außer der Rubrik zur Problematik der Systembildung selbst, die es bei zweien beläßt. Zufall ist das nur, wenn man das "Fünferschema" der rhetorischen Systembildung nicht bedenkt, derzufolge sich die. rhetorices paries historisch durchgesetzt haben. Diese förmlich mit der Hand zu begreifende Fünfzahl (90) von inventio, dispositio, elocutio, memoria and actio, aber auch die sieben Fragen (98) des Inventions-Hexameters quis, quid ubi quibus auxilius, cur, quomodo quando oder die Nennung der zehn zentralen Tropen (209), machen deutlich, daß der Zählung eine wichtige mnemotechnische Bedeutung in den Systemen der klassischen Rhetorik zukommt. Die Systematik der Zahlung weist auf die Methode der Erzählung voraus. Nicht ohne Selbstironie stellt Groddeck einmal fest, wer alle Regeln der Rhetorik aufzählen...