1. Der Band: Ein interdisziplinarer Beitrag zum Problem des Anderen1)
Grenzuberschreitungen, die das Eigene durch die Begegnung mit Fremdem nicht nur erweitern und relativieren, sondern das Eigene als das vom Anderen Verschiedene erst konstituieren, werden in einer von Pluralisierung und Heterogenitat gepragten Gesellschaft immer wichtiger. Dieser Gedanke bildet die Grundlage der von Alfred SCHAFER und Michael WIMMER herausgegebenen Reihe "Grenzuberschreitungen. Padagogik und Kulturwissenschaften", in der der Erziehungswissenschaft in ihren Bemuhungen um disziplinare Einheit und Koharenz durch einen interdisziplinaren Dialog zu einem neuen Verhaltnis zu ihren Grenzen verholfen werden soll. [1]
Im vierten Band mit dem Titel "Selbstauslegung im Anderen" wird ausgehend von der These einer originaren Unzuganglichkeit des Anderen diskutiert, welche Folgen dies fur einen zeitgemasen und reflektierten Umgang mit Konzepten wie Identitat, Differenz, Eigenes/Fremdes haben kann - sei es in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, sei es in der padagogischen oder auch gesellschaftlichen Praxis. Der Zielsetzung der Publikationsreihe entsprechend werden "aus unterschiedlichen Disziplinen exemplarisch und aus verschiedenen Perspektiven Fragestellungen aufgegriffen und erortert, die trotz aller Diversitat die Problematik des Verhaltnisses zum Fremden im Sinne einer Selbstauslegung im Anderen zum Gegenstand haben" (S.20). Der Band vereint neun Beitrage aus Philosophie, Ethnologie, Psychoanalyse, Geschlechtertheorie, Politikwissenschaft und Medientheorie. Auch wenn die beiden Herausgebenden Erziehungswissenschaftler sind, so wie die Mehrzahl der Beitragenden, und in dem Band haufig padagogische Sachverhalte angesprochen werden, ist der Band keineswegs nur an Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler adressiert; andere mit einem Faible fur interdisziplinare Ansatze werden in dem Buch interessante Anregungen finden konnen. [2]
2. Das Thema: Die "Unzuganglichkeit des Anderen" als gesellschaftliches und theoretisches Problem
Wie RUCHLAK (2004, S.207-258) in ihrem philosophiegeschichtlichen Abriss der Stellung des Anderen im abendlandischen Denken ausfuhrt, ist der Andere erst spat als Problem sui generis thematisiert worden. Uber lange Zeit ist der Andere lediglich als ein zwar anderes, aber letztlich gleichartiges Selbst aufgefasst worden. Erst im 20. Jahrhundert, so RUCHLAK, wurde mit HUSSERL die Fremdwahrnehmung und Erkennbarkeit des Anderen ein Problem. Ihre heutige Pragung erhielt die Frage nach dem Andern aber erst durch das sog. "Denken der Differenz" (KIMMERLE 1987a, S.11) und ihre Protagonisten, allen voran LÉVINAS, aber auch LYOTARD, FOUCAULT oder DERRIDA. Der Andere gilt nun als der unerkennbare, nicht auf einen Begriff zu bringende, sich jeder interpretierenden Aneignung entziehende Andere (RUCHLAK 2004, S.208). Rund um das Problem des Anderen ist seitdem ein auserst lebendiger und vielschichtiger Diskurs entstanden, zumal in Anbetracht eines solchen Anderen Konzepte wie Intentionalitat und Regelhaftigkeit der Kommunikation (WALDENFELS 1998, S.39ff.), aber auch Identitat und Sozialisation (SCHAFER 2000) womoglich grundlegend revidiert werden mussen. [3]
Auch die Erziehungswissenschaft, die sich den Zielen einer emanzipatorischen Padagogik verpflichtet sieht, ist daher vom Problem des Anderen betroffen, wie einer der Herausgeber des hier besprochenen Bandes schon vor langerer Zeit betont hat. Denn ein gewaltloses Verhaltnis zum Anderen "jenseits seiner Abschatzung oder Ergreifung, des vereinnahmenden Verstehens und des identifizierenden Erkennens" ist nur moglich, wenn es gelingt, "die Andersheit des Anderen in ihrer Irreduzibilitat bestehen zu lassen" (WIMMER 1988, S.9). Um aber verschiedene Moglichkeiten eines solchen Umgangs mit dem Anderen auszuloten, muss die Erziehungswissenschaft uber den Tellerrand hinaussehen. Eben dies geschieht in dem hier besprochenen Band und seiner Berucksichtigung vieler verschiedener disziplinarer Perspektiven. [4]
Die beiden Herausgeber fuhren in ihrer mit "Zwischen Fremderfahrung und Selbstauslegung" uberschriebenen Einleitung aus zwei Richtungen in das Thema ein. Einerseits verweisen sie auf aktuelle gesellschaftliche Tendenzen wie die in Reaktion auf zunehmende Auslanderfeindlichkeit lauter werdenden Forderungen nach interkultureller Kompetenz oder die Separierung von Immigrant(inn)en in Parallelgesellschaften, wodurch das Prinzip der Toleranz mehr und mehr in Frage gestellt wird. Die "Illusion von einem problemlosen und friedlichen Miteinander der Kulturen" (S.18), in der das Andere nur als Modifikation des Eigenen gesehen wird, lasst sich angesichts dieser empirischen Befunde nicht mehr aufrechterhalten. Andererseits verweisen sie auf eben jene philosophische Tradition, die sich "das Andere und das Denken der Verschiedenheit" (KIMMERLE 1987b) zum Gegenstand gemacht hat und ausgehend von begrifflichen Analysen den das Andere als das prinzipiell unzugangliche Andere bestimmt. Dieses Andere geht per definitionem in Interpretationen seiner Fremdheit und identifizierenden Aussagen uber empirische Unterschiede nicht vollstandig auf. Dies hat aber auch Konsequenzen fur die Erkenntnis des Eigenen: Wenn, so der Kerngedanke, "Eigenes und Fremdes Konzepte sind, die sich nur im Lichte des jeweils anderen angeben lassen, dann ist damit das Thema eines Selbst bezeichnet, das sich nur uber die Auslegung im Anderen gewinnt" (S.11). Dem SCHUTZschen Diktum, dass "alles echte Fremdverstehen auf Akten der Selbstauslegung des Verstehenden fundiert ist" (SCHUTZ 1974, S.156), wird so die vermeintliche Sicherheit der egologischen Perspektive genommen (wobei allerdings in dem Band an keiner Stelle auf SCHUTZ Bezug genommen wird) und eine nicht aufzulosende problematische Dimension hinzugefugt: Wie kann man im Akt der Selbstauslegung den Anderen in seiner Unzuganglichkeit bewahren, ohne ihn auf Eigenes zu reduzieren und ohne ihn zu ignorieren? Und hierin liegt auch die Verbindung der theoretischen zur praktisch-ethischen und politischen Dimension des Themas. [5]
Dieser "Figur" (S.21) einer Selbstauslegung im Anderen und den mit ihr verbundenen Schwierigkeiten und Komplikationen sollen sich die einzelnen Beitrage annehmen. Unabhangig von der Qualitat der einzelnen Beitrage mochte ich vorgreifend kritisch anmerken, dass es bei deren Lekture uberaus schwer fallt, die in der Einleitung aufgerissene Problemstellung wiederzuerkennen. Die von den Herausgebern bewusst gewahlte hohe Diversitat der Beitrage hat zur Folge, dass deren Zusammengehorigkeit nur schwer erkennbar ist. Mitunter wurde mir erst beim Zuruckblattern zum Vorausblick auf die Beitrage in der Einleitung klar, inwiefern die Beitrage als Antwort auf die Frage nach der Selbstauslegung im Anderen gelesen werden konnen. Dies liegt wohl auch daran, dass Informationen zu den Hintergrunden der Publikation vollstandig fehlen. PAZZINI nennt seinen Beitrag einen "Vortrag" (S.61), VISKER spricht zu Beginn seines Beitrags von dem, "was uns hier [...] zusammenbringt" (S.115), was jeweils vermuten lasst, dass der Band aus einem Kolloquium o.A. hervorgegangen ist. Doch dies bleibt ebenso unklar wie die Frage, was den Autoren und Autorinnen als gemeinsame Grundlage zur Verfugung stand. STRECK erwahnt "das hermeneutische Erkenntnisinteresse des Gemeinschaftsvorhabens" (S.27), doch worin dies genau besteht, bleibt im Dunkeln. Schlieslich mochte ich (als gut gemeinte Warnung) darauf hinweisen, dass fur mit dem Denken LACANs wenig vertraute Lesende (wozu zugegebenermasen auch ich mich zahlen muss) einige der Texte bis an die Grenzen der Nachvollziehbarkeit gehen - und manchmal auch daruber hinaus. [6]
3. Zu den Beitragen
Trotz der erwahnten Kritikpunkte halten die Beitrage viele wertvolle und interessante Ansatze bereit. Im Folgenden sollen jeweils die Kerngedanken pointiert zusammengefasst werden. Der Ethnologe Bernhard STRECK widmet sich in seinem Beitrag "Fremdauslegung im Selbst" den Besessenheitskulten in afrikanischen Gesellschaften und tragt hierzu einige Berichte und Deutungen dieser Kulte in der ethnologischen Literatur des 20. Jahrhunderts vor. Nachdem Besessenheit in der Aufklarung pathologisiert wurde, erweist sie sich heute als "charakteristisch fur komplexe Gesellschaften mit ihren durchmischten Verhaltnissen" (S.29). Die Inbesitznahme durch eine ausermenschliche Wesenheit, die sich in einer tanzenden Darstellung z.B. von Kolonialherren ausert, interpretiert STRECK als "Bewaltigung des Anderen, Fremden durch seine Nachahmung" (S.33). Dennoch warnt er im Anschluss an diese Interpretation von Besessenheit als Fremdauslegung im Selbst vor dem Glauben, damit dieses Phanomen umfassend verstanden zu haben. Die Fremdauslegung im Selbst erscheint westlichen Beobachtenden im Rahmen wissenschaftlicher Rationalitat selbst zutiefst fremd und befremdlich, da "die Vorstellung, dass ein Geist von irgendwo her kommt, sich im Kopf oder Korper eines Menschen einnistet und dessen Handlungen, Denken und Auserungen steuert" (S.42), d.h. die gleichzeitige "Autonomie und Heteronomie des Subjekts" (S.43) letztlich unverstandlich bleibt. [7]
Das Problem der Verstehbarkeit fremdkultureller Praktiken bildet auch den Ausgangspunkt des Beitrags von Iris DARMANN "Uber ausgeschlagene fremdkulturelle Gaben: Derridas eurozentristische Lekture des Essai sur le don". Entgegen der herkommlichen Meinung, dass DERRIDA einer der entschiedensten Kritiker des Eurozentrismus sei, zeigt DARMANN uber einen Vergleich von DERRIDAs in Auseinandersetzung mit MAUSS entwickelten Theorie der Gabe und dem MAUSSschen Original, wie dieser in seiner Kritik an MAUSS und seiner eigenen Vorstellung einer "reinen Gabe" jenseits des Tauschs letztlich doch europaischen Denkmodellen verhaftet bleibt. Er missachtet die spezifischen historisch-kolonialen Voraussetzungen des von MAUSS beschriebenen Gabensystems und weist alles zuruck, "was sich [...] seiner Auslegung des lokalen Vorverstandnisses [...] entzieht" (S.52f.). MAUSS hatte dagegen die radikale Andersheit der pazifischen Gabensysteme als "Anlass einer kritischen Fremdauslegung seines eigenen Verstandnisses von Gabe und Okonomie" (S.52) genommen. Diese Chance, so DARMANN, hat DERRDIA vergeben. [8]
Karl-Josef PAZZINI thematisiert in seinem Beitrag die Schwierigkeit innerhalb der psychoanalytischen Praxis, eine Beziehung zum Anderen zu finden, in der dieser als Anderer belassen und weder objektiviert noch wahnhaft verkannt wird. Hierzu zeichnet er anekdotenhaft und in vielen, auf den ersten Blick zusammenhangslosen Einzelschritten die Erfindung des psychoanalytischen Settings nach, das eine institutionalisierte Losung dieses Problems darstellt. In der "Auslegung vor einem Anderen" (so der Titel des Beitrags, der auch wortlich im Sinne eines Sich-auf-der-Couch-Auslegens verstanden werden kann) ist vor allem der Entzug des Blicks von entscheidender Bedeutung. Dadurch, dass beiden, Analytiker(in) wie Analysand(in), "die visuell uberprufbare Wirkung ihrer Worte" (S.66) entzogen wird, konnen sprechendes und imaginierendes Ich auseinander treten, was die Einwanderung von Fremdheit ermoglicht. [9]
Barbara RENDTORFF widmet sich in ihrem Beitrag der Frage "Ist der 'Andere des anderen Geschlechts' ein besonderer Anderer?" und geht dabei von folgender Uberlegung aus: In der leiblichen Dimension "dokumentiert das Geschlecht [...] die Unuberwindbarkeit der Andersheit des Anderen und zugleich die Angewiesenheit auf den Anderen" (S.81). Obwohl die Geschlechterunterscheidungen "substantialisierte Effekte der Auslegung, der Interpretation dieser Differenz" (S.90) und somit kulturellem und historischem Wandel unterworfen sind, was RENDTORFF in einer sehr dichten und detailreichen Zusammentragung von Interpretationen der Geschlechtlichkeit zeigt, bleibt die leibliche Differenz unaufhebbar. Doch gerade in dieser Einsicht sieht RENDTORFF groses politisches Potenzial, das durch bisherige politische Forderungen und Entscheidungen etwa im Zuge der Frauenbewegung zumeist ungenutzt blieb. Denn "an der Geschlechterordnung, an der Wahrnehmung und dem Umgang mit der Geschlechterdifferenz [konnte] der Umgang mit Differenz uberhaupt und folglich auch mit dem Fremden gewissermasen 'geubt' werden" (S.93) - ein Umgang jenseits von Vereinnahmung und Ausgrenzung. Leider bleibt es bei dieser negativen Bestimmung. Wie ein solcher Umgang aussehen kann, lasst RENDTORFF offen. [10]
Alfred SCHAFER geht in seinem Beitrag "Sakralisierungsstrategien" der gleichermasen alltagspraktisch wie auch moralisch intendierten Frage nach, wie damit umgegangen werden kann, "dass man dem Anderen mittels symbolischer Ordnungsmuster nicht gerecht werden zu werden vermag, dass man dabei immer auch selbst Opfer unaufloslicher Projektionen des eigenen Selbst wird, das sich am Anderen zu bestatigen sucht" (S.99f.). Eine Moglichkeit, dieser "doppelten Ungerechtigkeit" (S.100) zu entgehen, besteht ihm zufolge in einem von Meidungsregeln bestimmten Ethos, wie GOFFMAN ihn beschrieben hat. Diesen vormoralischen Strategien stellt SCHAFER solche Strategien gegenuber, die von einer ethischen Reflexion dieser doppelten Ungerechtigkeit ausgehen. Im Anschluss an LÉVINAS' ethische Reflexionen, der in der Widerfahrnis des Antlitzes die Erfahrung eines sich jeder symbolischen Ordnung entziehenden Anderen und somit den Grund einer letztlich uneinlosbaren Verantwortung sieht, bleiben als Moglichkeiten nur die Sakralisierung der Unzuganglichkeit des Anderen oder die Sakralisierung der Unzuganglichkeit des Eigenen. Die Konsequenz ist jeweils die gleiche: Die "Neutralisierung jeder moglichen Begrundung von Gerechtigkeit" (S.113). Samtliche von SCHAFER erlauterten Strategien haben also ihre Mangel - und leider deutet er zum Schluss nur sehr vage an, wie man aus dieser "Falle" herauskommen konnte. [11]
Auch Rudi VISKER thematisiert in seinem Beitrag "Zum Unbegriff des Politischen" die Probleme eines Selbstverstandnisses, das nur vom Anderen her moglich ist. Der These LÉVINAS', die Begegnung des Anderen zwinge das Ich, sich einer unmoglichen Verantwortung ihm gegenuber zu stellen, halt VISKER entgegen, dass sich in der Begegnung mit der Andersheit des Anderen eine intrasubjektive Differenz zeigt, der zufolge "die Gestalt des Anderen mich nicht mit einem anderen-in-mir konfrontiert, sondern mit einer Art Anderheit, die zum ureigenen Sinn eines solchen Ich gehort" (S.124). Dieser Riss im eigenen Selbst ist es, mit dem sich das Ich in der Begegnung mit dem Anderen konfrontiert sieht. [12]
Torsten MEYER stellt in seinem Beitrag "Weltweit-Werden des Anderen" medientheoretische Uberlegungen dazu an, wie die gegenwartigen medialen Bedingungen die Beziehung zum Anderen pragen. Hierzu legt er eine - fur mich durchaus sehr ansprechende - Sicht auf das Internet vor, das weniger als technisches, nach Belieben an- und ausschaltbares Medium denn als "Trager und Stoff psychischer und sozialer Vorgange" (S.130) und somit als eine "soziale und kommunionale Angelegenheit" (S.135) begriffen werden sollte. Dies verlangt auch einen Begriff von Medienkompetenz, der nicht thematisch isoliert ist und auch interkulturelle Kompetenzen umfasst. Aus diesem Grunde zieht MEYER auch DERRIDAs Terminus mondialisation, zu Deutsch Weltweit-Werden, dem Terminus Globalisierung vor, da letzterer eine jegliche Differenzen nivellierende Vogelperspektive suggeriert, wahrend ein Weltweit-Werden "dem Anerkennen der Pluralitat und damit verbundenen Heterogenitat der Kulturen" (S.148) zu seinem Recht verhilft. Zwischen den Ausgangsannahmen und den plausiblen Schlussfolgerungen geht MEYER allerdings recht verschlungene, "assoziierende" (S.141) Wege uber CUSANUS und LACAN, die sich haufig im Unbestimmten zu verlieren drohen. [13]
Im letzten, meines Erachtens gelungensten Beitrag "Das Andere seiner selbst werden" nimmt Stephan MUNTE-GOUSSAR kritisch die These in den Blick, nach der das Internet mit seinen virtuellen Gemeinschaften neue Formen des Selbstverhaltnisses begunstigt und somit eine empirische Realisierung der grosen Themen der Postmoderne wie Dezentrierung, Fragmentisierung, Differenz und Pluralitat ermoglicht. Geht man aber die verschiedenen Formen der MUDs, Communities, Wikis und Blogs einmal durch, so zeigt sich bald, dass zumeist Inszenierungen von Authentizitat und Ich-Marketing im Vordergrund stehen. "Statt um eine Veranderung des Selbst geht es um eine Selbstbehauptung vor den Anderen" (S.168). Hierzu bringt MUNTE-GOUSSAR viele uberzeugende Beispiele wie etwa die Echtheitszertifikate in virtuellen Profilen in Flirt-Communities (S.166). Die Ausgangsfrage, ob das Internet eine asthetische Lebenskunst im Sinne FOUCAULTs ermoglicht, ist damit aber nicht grundsatzlich verneint. Aus seinen empirischen Befunden folgert MUNTE-GOUSSAR vielmehr, dass von einer gegebenen technischen Struktur keine bestimmten sozialen Praktiken abgeleitet werden sollten, sondern
"dass es sich um ein Wechselwirkungsverhaltnis handelt, innerhalb dessen ein bestimmtes mediales Dispositiv eine spezifische Nutzung und damit bestimmte soziale Praktiken nahe legt, und umgekehrt gangige soziale Praktiken den tatsachlichen Gebrauch prafigurieren und sich in die (Fort-)Entwicklung bestimmter medialer Strukturen einschreibt und in technischen Apparaturen manifestiert" [sic!] (S.174). [14]
4. Kritik
Was dieser Sammelband seinen Lesenden bietet, ist zugleich Vorteil und Nachteil. Der Vorteil besteht in der grosen Bandbreite an Themen und Ansatzen, die allerdings weniger Losungen anbieten als Fragen aufwerfen, herkommliche Meinungen kritisch beleuchten und somit eine grose Zahl von Anknupfungspunkten fur kommende Forschungen empirischer wie theoretischer Natur bereit halten. Es geht den Herausgebern ja auch erklartermasen nicht um eine alle Problemdimensionen umfassende Analyse. Wohl aus diesem Grunde haben sie auf eine einheitliche Definition des Begriffs der Selbstauslegung verzichtet. Die grose thematische Bandbreite hat aber auch eine nachteilige Unubersichtlichkeit zur Folge, die sich, wie bereits erwahnt, ohne die Einleitung wohl kaum entwirren liese. Doch auch einzelne Beitrage sind hiervon betroffen: So durchzieht die Beitrage von SCHAFER oder RENDTORFF eine fortlaufende, uberaus verwirrende Offnung von Alternativen. Letztere kundigt gegen Ende an, im Folgenden zwei Ansatze zu einer Fragestellung anzubieten, und beginnt mit "Eine Moglichkeit ware ..." (S. 91) - die erwartete andere Moglichkeit sucht man aber vergeblich. Bei vielen Beitragen fehlt auserdem ein einleitender Uberblick uber das, was in dem oft nur vage betitelten Beitrag behandelt werden soll. [15]
Eine Starke des Buchs liegt in dem schon in der Einleitung zum Ausdruck kommenden Versuch, die behandelten Probleme mit aktuellen gesellschaftlichen Tendenzen und Konflikten in Verbindung zu bringen, die nicht zuletzt fur die Erziehungswissenschaft Herausforderungen darstellen. Leider bleibt es aber haufig beim Versuch. Obwohl viele der Beitrage an aktuelle gesellschafts- und erziehungspolitische Themen anknupfen und mitunter auch konkrete, einen zeitgemasen und reflektierten Umgang mit dem Anderen betreffende Forderungen aufstellen, bleiben sie gerade hierin auserst vage und kommen uber negative Aussagen (etwa: dass die Probleme eben nicht so einfach zu losen seien, dass sie eben anders gedacht werden mussen o.A.) zumeist nicht hinaus. Dies mag der These von einer Unzuganglichkeit des Eigenen entsprechen, ist fur Lesende aber wenig befriedigend. [16]
Die haufigen Verweise auf gleichermasen spezielle wie hochabstrakte Gedanken von Autoren wie LACAN, LÉVINAS und DERRIDA lassen schlieslich auch die Frage aufkommen, ob es hier mehr um die Exegese und ein Weiterspinnen dieser Gedanken als um das Verstandnis konkreter Phanomene mit entsprechender empirischer Relevanz geht. DARMANNs Kritik an DERRIDA ist plausibel, doch macht sie nicht hinreichend klar, welche uber die DERRIDA-Forschung hinausgehende Relevanz dies haben konnte. Mir ist auch nicht klar geworden, welchen Nutzen es hat, wenn MEYER LACAN und CUSANUS verbindet, um damit eine Randbemerkung DERRIDAs besser bezuglich ihrer Anwendbarkeit auf einen Spruch von Boris Becker interpretieren zu konnen. Meines Erachtens werden hier methodische Ebenen vorzeitig vermischt, die besser auseinander gehalten worden waren: namlich die der hermeneutischen Analyse von Texten anderer Autor(inn)en, der begrifflichen Analyse von theoretischen Problemen und der Anwendung auf empirische Sachverhalte. [17]
Wie erfrischend wirkt dagegen ein Buch wie "Der Kosmopolit" (APPIAH 2007), in dem ebenfalls nach Moglichkeiten des Umgangs mit dem Anderen gesucht wird, in dem dieser weder auf Eigenes reduziert noch als nicht achtenswert ignoriert wird! Naturlich ist hier der Anspruch ein ganzlich anderer, und auch hier werden die methodischen Ebenen nicht immer auseinander gehalten. Doch hier werden mit der in einer Vielzahl von Anekdoten vorgestellten Idee einer Starkung des interkulturellen Dialogs konkrete Losungen vorgeschlagen. Diese sind zwar hochst streitbar und theoretisch nicht immer vollstandig durchdacht, antworten aber dafur auf Probleme wie etwa die Abwagung zwischen der Schutzbedurftigkeit von Traditionen und dem Eintreten fur universale Werte wie Menschenrechte, deren Dringlichkeit sich auch ohne lange Exegesen von franzosischen Differenzdenkern erschliest. Bei der Lekture von "Selbstauslegung im Anderen" kommt einem dagegen manchmal ein Ausspruch von RORTY (1985) in den Sinn: Sie kratzen, wo es nicht juckt. [18]
Anmerkung
1) Das Thema ist der Andere im Sinne von anderer Mensch. "Der Andere" ist der gebrauchliche Terminus in dem Diskurs, der seine Wurzeln in HUSSERLs Theorie der Fremdwahrnehmung hat, in THEUNISSENs Werk "Der Andere" (1965) erstmals umfassend behandelt wurde und schlieslich bei LÉVINAS ("Das absolut Andere ist der Andere" [LÉVINAS 1987, S.44]) die fur den besprochenen Band relevante Pragung erhielt. Die im Folgenden zumeist gewahlte Verwendung allein der mannlichen Form liegt in dieser Tradition begrundet. (zuruck)
Zum Autor
Simon MEIER, M.A., Studium der Kommunikationswissenschaft und Philosophie an der Universitat Duisburg-Essen. Derzeit Lehrbeauftragter und Doktorand im Fach Kommunikationswissenschaft. Interessenschwerpunkte: Theorie des Gesprachs, Qualitative Sozialforschung, insbesondere Gesprachsanalyse, Philosophische Hermeneutik.
Kontakt:
Simon Meier
Keplerstrase 3
D-45147 Essen
Tel.: 0201-7491031
E-Mail: [email protected]
Zitation
Meier, Simon (2007). Rezension zu: Alfred Schafer & Michael Wimmer (Hrsg.) (2006). Selbstauslegung im Anderen [18 Absatze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(1), Art. 51, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0801515.
© 1999-2011 Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (ISSN 1438-5627)
Supported by the Institute for Qualitative Research and the Center for Digital Systems, Freie Universitat Berlin
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Ruchlak, Nicole (2004). Das Gespräch mit dem Anderen. Perspektiven einer ethischen Hermeneutik. Würzburg: Königshausen & Neumann.
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Copyright Freie Universität Berlin 2008
Abstract
This volume is dedicated to the philosophical problem of other minds--that is, of the inaccessible other that resists all attempts at understanding. From this perspective, problems arise if individuals can only come to self-understanding by differentiating themselves from others--how is this possible if the other is radically inaccessible? This compilation contains essays approaching these problems from the point of view of different disciplines. Despite many interesting approaches with links to further research the volume suffers from a high degree of heterogeneity and it becomes difficult to keep track of the overall argument. Furthermore, the claim that connections to current issues and controversies will be shown is not always maintained. This may be ascribed to the fact that this claim is often obscured by hard-going exegesis of the thoughts of various "thinkers of difference."
URN: urn:nbn:de:0114-fqs0801515
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