1. Opus doctum, sed non docendum
Nun bin ich klug so wie zuvor. Bin ich ein Tor? - Nachdem ich mich durch mehr als 300 Seiten intellektueller Assoziationen von Mathias SPOHR gearbeitet habe (gequalt, ware ubertrieben), bin ich mir nur in einem Punkt sicher: Der sehr gelehrte Text hatte eines kompetenten und kritischen Lektors bedurft, um ihn tatsachlich auch lehrreich werden zu lassen. [1]
Mathias SPOHR unternimmt mit dem vorliegenden Text den Versuch, die wesentlichsten Aporien der Moderne damit zu begrunden, "dass die westliche Zivilisation aus einer zwiespaltigen Einstellung der christlichen Religion zum Messen entstanden ist" (Klappentext). Und dieses Messen ist fur ihn das Medium schlechthin. Das Medium ist das Mas. Das Mas ist das Medium. [2]
Wort- und metaphernreich erlautert Mathias SPOHR seine "Ansatze zu einer allgemeinen Medientheorie". Er ist prazise in seinen Ausfuhrungen. Manchmal nahert er sich in seinem Streben nach Prazision dem Duktus eines Niklas LUHMANN an. Wesentlich haufiger allerdings endet sein Hang zur Sprachgenauigkeit in der Redundanz. Seine erlauternden Beispiele wiederholen sich. [3]
Dabei verheist ein Blick auf die Auswahlbibliografie kultur- und medienwissenschaftlich durchaus spannende Annaherungen. Von ADORNO uber ANDERS bis zu SLOTERDIJK oder ZIELINSKI, von BAUDRILLARD uber BENJAMIN bis zu VIRILIO oder WITTGENSTEIN; FOUCAULT darf naturlich genau so wenig fehlen wie GOFFMAN oder KITTLER. - Der Autor hat sich die bestimmt interessantesten Autoren zu einer medialen Anthropologie angelesen und erarbeitet. Allerdings: Im Sinne argumentativer Notwendigkeit huldigt SPOHR - der Verdacht hat sich bei mir eingeschlichen - damit postmoderner Bricolage. [4]
Ausgehend von der methodisch sauberen definitorischen Unterscheidung zwischen "technischem" und "sozialem Medium" setzt sich der Autor zunachst mit der "Messung" (S.13-92) auseinander. Er diskutiert in diesem Teil alt bekannte Probleme und Aporien der Beobachterperspektive, der Relativitat von scheinbar objektiven Daten ("Der vereinheitlichte Blick erscheint als Objektivierung", S.51) kurzum: Ansatze konstruktivistischer Medientheorie, um die Grenze "zwischen Handeln und Funktionieren" (S.87) abzustecken. [5]
Im darauf folgenden Hauptkapitel uber "Kausalitat" (S.93-214) vermengt SPOHR unbekummert Systemtheorie mit Konstruktivismus und Poststrukturalismus. Problematisch dabei ist vor allem, dass er seine Uberlegungen um einen vollig unklaren Differenz-Begriff kreisen lasst. Dabei ist ihm zunachst die "Aufzeichnung [...] eine unuberwindliche Differenz" (S.129), deren Uberwindung aber wenige Zeilen spater dennoch "symbolisch geschehen" kann, "durch Imagination". Ob SPOHR hier auf LACAN anspielt oder KITTLER, oder ob er die Begriffe wie den Medien-Begriff selbst "vom alltaglichen, intuitiven Gebrauch des Wortes" (Klappentext) ableitet, wird nicht klar. Ahnliches ist ihm da auch beim Gebrauch des in der Medientheorie etwa von NOELLE-NEUMANN klar definierten und historisch etwa von HABERMAS eindrucksvoll geklarten "Offentlichkeits"-Begriffs unterlaufen. [6]
Vollends diffus und immer ofter redundant werden die Ausfuhrungen dann im dritten Hauptkapitel uber "Zeremonielles" (S.215-319). SPOHR operiert hier mit kaum geklarten Vorstellungen von "entfernter" und "aktueller Welt", bringt plotzlich (S.268) "das Subjekt" wieder ins Spiel, das in all den von ihm bevorzugten wissenschaftstheoretischen Paradigmen langst verabschiedet worden ist oder er "beugt" Zivilisationstheoretiker wie ELIAS oder FOUCAULT im Sinne seiner Interpretationsnotwendigkeiten. Er wandelt symbolische in physische und wenig spater physische in symbolische Differenzen/Ausgrenzungen (S.272f) und streift dabei zeitweise auch ein wenig an LACAN an. [7]
2. Produrre-superare-sopravvivere: Das Sich-Messen als condition humaine
Einem "Klassiker der Zivilisationskritik", namlich Elias CANETTI, scheint sich Mathias SPOHR allerdings konsequent verweigert zu haben. Denn der Begriff des "Uberlebenden" (CANETTI 1983, S.249-311) beleuchtet bereits die zwiespaltige Einstellung der Menschen zum Messen, die SPOHR als historischen Hintergrund einer "traditionellen Verwechslung von Wirklichkeit und Aufzeichnung" (Klappentext) darzulegen versucht. [8]
CANETTIs "Uberlebender" beherrscht das - von Massimo CACCIARI als "produrre-superare-sopravvivere" dargestellte - Dreieck der menschlichen Existenz, in dem das Sich-Messen eine condition humaine schlechthin ist. Indem der Mensch (sich/Verhaltnismasigkeit/etc.) pro-duziert,1) kann er besser sein als (der/die) Andere und sich nur deswegen des Uberlebens versichern. [9]
Und bereits vor CANETTI hat Simone WEIL (1984) darauf hingewiesen, dass das Sich-Messen mit der Natur um zu uberleben in den fruhen Phasen der Gesellschaftlichkeit in weiterer Folge zum Sich-Messen mit den Anderen wird: dass Hierarchien, Machtstrukturen und menschliche Gewalt pervertierte Formen menschlicher Uberlebensstrategien im Kampf um den Bestand der Spezies sind. Das Messen, das Sich-Messen als specificum humanum ist also so neu nun auch wieder nicht, wie Mathias SPOHR es darzustellen versucht. [10]
Und das Messen als Medium etablieren zu wollen, ubersieht die Tatsache, dass die im Messen festgestellte Differenz erst dann bedeutend wird, wenn sie benannt werden kann. Das ist der Unterschied zwischen Information und Kommunikation. Das Mas ist ausschlieslich sprachlich - und das heist: medial-kommunizierbar. Dass der Mensch uberhaupt auf den Plan der Schopfung getreten ist, ist daher ein wesentlich mediales, namlich: sprachliches Geschehen. Denn erst durch die Sprache, erst im Erwerb der Sprachfahigkeit scheidet sich der Mensch aus der Unmittelbarkeit der Schopfung. Das Gleichnis von Adam und Eva etwa gewinnt in der Erlauterung des MAIMONIDES (1972, S.30-36) erhellende Bedeutung, der den Sundenfall als Erkenntnis der Differenz bestimmt: "und so erlangte er die Fahigkeit, die Wertdinge zu begreifen, und ergab sich der Ausubung der haslichen oder schonen Handlungen" (a.a.O., S.33). [11]
Medientheoretisch ist das - anders als bei SPOHR - durchaus nachvollziehbar. Denn ein Zeichen wird erst dadurch Bedeutungstrager, wenn es arbitrar codiert und seine Negation impliziert ist. Oder systemtheoretisch gedacht: erst eine Differenz bewirkt einen kommunikativen Akt. Das heist also nichts anderes als: der Mensch kann sich nur aussagen im Angesicht und Bewusstsein des Anderen, des von ihm Geschiedenen, Differenten. [12]
Erst die Erfahrung der HEIDEGGERschen "Unheimlichkeit des Daseins", der Widerstandigkeit und der Bedrohlichkeit der Schopfung, macht aus "Adam und Eva" jenes zoon symbolicon, das als "Adam und Eva" auch socialis wird. In dieser Erfahrung wird der paradiesische Zustand der Unmittelbarkeit, der Im-media-litat des Daseins, erschuttert durch die Antifolie der Todeserfahrung. Durch die Sprache als System der Kommunikation erfahrt der Mensch seine Verganglichkeit und seine gesellschaftliche Bedingtheit und: er kann seine Erfahrung mit-teilen. Renatus SCHENKEL nennt dieses Datum der Anthropogenese "Dominanzwechsel zum gesellschaftlich-historischen Prozes" (1988, S.54). Das gemeinsame Mas ist also nicht das Messen, auch nicht die gemessene Differenz, sondern: die medial aussagbare Differenz. [13]
Dass naturlich im "Medial Turn" (MedienJournal Nr. 1/1999) die Differenz zusehender In-Differenz weicht und dass der Mensch sich vom visionierten homo universalis immer starker zum homo functionalis degradieren lasst, hat aber im Gegensatz zu SPOHRs Ansicht weniger damit zu tun, dass das Mas das Medium ist, sondern damit, dass genau dieses Messen von einer gottlichen Instanz hin zur Maschine verlagert wird. Bereits BAUDRILLARD verweist mit seinem Konzept des "Simulakrum" auf jene Referenzlosigkeit, auf jene Indifferenz des Bildes und damit: des Begriffs in der e-quality des Cyberspace. [14]
3. Und bist Du nicht willig, ...
Zwar gesteht die postmoderne Wissenschaftstheorie dem Essay - beinahe - jede Freiheit zu, fur meinen Geschmack aber geht Mathias SPOHR zu beliebig mit wissenstheoretisch oppositionellen Positionen um. So nach dem Motto "Bist Du nicht willig" versohnt er Systemtheorie mit Poststrukturalismus oder (neo-) konservative Ansatze mit kulturpessimistischer Kritik. [15]
So beginnt er seine Ausfuhrungen ganz im Stile systemtheoretischer Definitionsversuche von "Medium", um in weiterer Folge seinem Medienbegriff zugunsten argumentativer Notwendigkeiten verwaschen zu lassen. Eigentlich bleibt er es letztendlich schuldig, "Medium" auch nur annahernd definiert zu haben. Seine kulturwissenschaftlich und -historisch spannenden Beispiele aus seinem Fachgebiet verbindet er unter argumentativen Zugzwang allzu haufig mit medienwissenschaftlichen Erorterungen. [16]
Diese assoziativen Verbindungen erweisen sich nicht immer - und im Fortlaufen der essayistischen Annaherungen immer seltener - als der Analyse wirklich zutraglich. Mir hat sich eigentlich von Seite zu Seite, von Kapitel zu Kapitel immer starker der Eindruck ausgepragt, dass Mathias SPOHR seine Vorbereitungen zu einer sicher sehr spannenden Vorlesung mehr oder weniger unlekturiert in ein Manuskript gegossen hat. Doch die - fur eine Vorlesung unbestreitbar wichtigen - Wiederholungen ersticken in Summe die intellektuell anregenden Uberlegungen fur eine "allgemeine Medientheorie" mit einer Uberfulle an kulturwissenschaftlichen Querverweisen. [17]
Nun mag Medientheorie (oder -wissenschaft) noch keine allzu grose Tradition haben, kulturwissenschaftliche Beliebigkeit herrscht aber auch in der "jungen" Medienwissenschaft nicht vor. Tatsachlich gibt es eine grose Zahl unterschiedlichster und zum Teil einander konkurrenzierender theoretischer Ansatze wie sie etwa Stefan WEBER (2003) beispielhaft ubersichtlich darstellt, eine "allgemeine Medientheorie" wie sie Mathias SPOHR zu entwickeln versucht, wird aber der Komplexitat des Medial Turn und seiner gesellschaftlichen Auswirkungen und Zusammenhange niemals gerecht. [18]
Eigentlich wirkt es vermessen, eine "allgemeine Medientheorie" formulieren zu wollen. Die Gefahr sich in "Allgemein"-platzen zu verlieren, ist eindeutig zu gros. [19]
Anmerkung
1) Die Schreibweise verweist darauf, dass der Begriff in seinem etymologischen Ursprungssinn aufgefasst wird. (zuruck)
Zum Autor
Reinhard KACIANKA (Jg. 1957) ist Medien- und Kulturwissenschafter an der Universitat Klagenfurt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Bereiche Medien- und Kulturwissenschaft; insbes. im Sinne von Medienasthetik und -ontologie.
Kontakt:
Reinhard Kacianka
Universitat Klagenfurt
A-9020 Klagenfurt
E-Mail: [email protected]
Zitation
Kacianka, Reinhard (2005). Rezension zu: Mathias Spohr (2003). Das gemeinsame Mas. Ansatze zu einer allgemeinen Medientheorie [19 Absatze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(2), Art. 5, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs050250.
Revised 2/2007
© 1999-2011 Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (ISSN 1438-5627)
Supported by the Institute for Qualitative Research and the Center for Digital Systems, Freie Universitat Berlin
Canetti, Elias (1983 [1980]. Masse und Macht. Frankfurt/M.: Fischer.
Maimon, Mose Ben (1972). Führer der Unschlüssigen (Band I, Erstes Buch). Hamburg: Felix Meiner-Verlag.
MEDIENJOURNAL. Zeitschrift für Kommunikationskultur (1999). Medial Turn. Die Medialisierung der Welt, 1/1999.
Schenkel, Renatus (1988). Kommunikation und Wirkung. Gesellschaftliche und psychische Voraussetzungen medialer Kommunikation. Frankfurt/M.: Campus.
Weber, Stefan (Hrsg.) (2003). Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus. Konstanz: UVK.
Weil, Simone (1984). Reflexionen über die Ursachen der Freiheit und der sozialen Unterdrückung. In Gerd Bergfleth (Hrsg.), Zur Kritik der palavernden Aufklärung (S.34-123). München: Matthes & Seitz.
You have requested "on-the-fly" machine translation of selected content from our databases. This functionality is provided solely for your convenience and is in no way intended to replace human translation. Show full disclaimer
Neither ProQuest nor its licensors make any representations or warranties with respect to the translations. The translations are automatically generated "AS IS" and "AS AVAILABLE" and are not retained in our systems. PROQUEST AND ITS LICENSORS SPECIFICALLY DISCLAIM ANY AND ALL EXPRESS OR IMPLIED WARRANTIES, INCLUDING WITHOUT LIMITATION, ANY WARRANTIES FOR AVAILABILITY, ACCURACY, TIMELINESS, COMPLETENESS, NON-INFRINGMENT, MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR A PARTICULAR PURPOSE. Your use of the translations is subject to all use restrictions contained in your Electronic Products License Agreement and by using the translation functionality you agree to forgo any and all claims against ProQuest or its licensors for your use of the translation functionality and any output derived there from. Hide full disclaimer
Copyright Freie Universität Berlin 2005
Abstract
Matthias SPOHR attempts to explain the effects of a Media Turn and argues that measuring is the actual medium. Citing most of the influential authors in the fields of philosophy, media theory and poststructuralism, he sets out to outline a General Media Theory. He confronts the challenge in a very erudite manner, but seems to lose his way in a fragmented world marked by contradictory positions. He tries to harmonise highly heterogeneous viewpoints but as a result his thoughts are not really informative. Taking a global view of his 300-page commentary, one has to conclude that "less would have been more" and that a competent and critical editor ought to have intervened in order to make Mathias SPOHR's intellectual efforts more effective.
URN: urn:nbn:de:0114-fqs050250
You have requested "on-the-fly" machine translation of selected content from our databases. This functionality is provided solely for your convenience and is in no way intended to replace human translation. Show full disclaimer
Neither ProQuest nor its licensors make any representations or warranties with respect to the translations. The translations are automatically generated "AS IS" and "AS AVAILABLE" and are not retained in our systems. PROQUEST AND ITS LICENSORS SPECIFICALLY DISCLAIM ANY AND ALL EXPRESS OR IMPLIED WARRANTIES, INCLUDING WITHOUT LIMITATION, ANY WARRANTIES FOR AVAILABILITY, ACCURACY, TIMELINESS, COMPLETENESS, NON-INFRINGMENT, MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR A PARTICULAR PURPOSE. Your use of the translations is subject to all use restrictions contained in your Electronic Products License Agreement and by using the translation functionality you agree to forgo any and all claims against ProQuest or its licensors for your use of the translation functionality and any output derived there from. Hide full disclaimer