1. Funf Verfahren der qualitativen Sozialforschung
Das Buch Qualitative Forschung. Ein Uberblick von Thomas BRUSEMEISTER stellt zentrale Grundzuge von folgenden funf Verfahren der qualitativen Sozialforschung vor: Einzelfallstudie, narratives Interview, Grounded Theory, ethnomethodologische Konversationsanalyse und die Objektive Hermeneutik. [1]
BRUSEMEISTERs Darstellung dieser Forschungsverfahren orientiert sich dabei an der Uberlegung, ob und inwiefern die einzelnen Methoden in der Lage sind, die grundlegenden Fragen der qualitativen Sozialforschung zu beantworten:
* Wie nehmen Akteure Situationen wahr (Situation)?
* Zu welchem Handeln entscheidet sich der Akteur in einer Situation bzw. welche Handlungsmoglichkeiten und Handlungsalternativen bestehen fur den betreffenden Akteur in einer Situation (Selektion)?
* Welche Konsequenzen und Strukturen ergeben sich aus den Handlungsentscheidungen (Aggregation)? [2]
Das narrative Interview beispielsweise konzentriert seinen Interessenschwerpunkt bei der Erklarung sozialer Prozesse auf die Handlungsentscheidungen bzw. -moglichkeiten von Akteuren, wahrend die Grounded Theory versucht alle drei Forschungsebenen zu beobachten. In Einzellfallstudien werden zwar Situationen und selektive Entscheidungen ethnographisch beschrieben, der Schwerpunkt der Studien liegt jedoch bei der Analyse der Aggregationen einer sozialen Gruppe oder eines sozialen Milieus. Die ethnomethodologische Konversationsanalyse und die Objektive Hermeneutik untersuchen demgegenuber ausschlieslich (Tiefen-) Strukturen. [3]
Ausfuhrlich widmet sich BRUSEMEISTER zunachst dem Verfahren der Einzelfallstudie und der Methode des narrativen Interviews. Die Einzelfallstudie wird dabei als ein soziologisches Beobachtungsverfahren vorgestellt, was zunachst irritiert, da naturlich auch eine Dokumentenanalyse beispielsweise eine Einzelfallstudie sein kann. BRUSEMEISTER hingegen spricht in diesem Zusammenhang vorrangig von Beobachtungsverfahren und erlautert unterschiedliche Arten der Beobachtung (teilnehmend vs. nicht-teilnehmend, verdeckt vs. offen, systematisch vs. unsystematisch) und verschiedene Protokollierungsformen wie das Forschungstagebuch oder die theoretischen Notizen, in welchem die Hypothesengenerierung reflektiert wird. Die Starken einer Einzelfallstudie, die einen Gegenstand detailliert zu beschreiben versucht, veranschaulicht BRUSEMEISTER anschliesend, in dem er Stefan HIRSCHAUERs soziologische Beobachtung einer Fahrstuhlfahrt (HIRSCHAUER 1999) referiert. [4]
Das narrative Interview, welches im Wesentlichen auf das Werk von Fritz SCHUTZE (1983) zuruckgeht, wird als die zentrale Methode der Biographischen Forschung bezeichnet. Angesichts einer Vielzahl an Moglichkeiten der Lebensgestaltung, wie sie fur die "Multioptionsgesellschaft" (GROSS 1994) charakteristisch zu werden scheint, steht die Biographieforschung vor besonderen Herausforderungen. Die biographische Genese der Gesellschaftsmitglieder, die - folgen wir der Argumentation von Ronald HITZLER und Anne HONER (1994) - heutzutage eine "Bastelexistenz" fuhren, ist mittels des narrativen Interviews rekonstruierbar. BRUSEMEISTER erlautert detailliert einzelne Strategien der Interviewgestaltung. So erortert er u.a. die Bedeutung der erzahlgenerierenden Frage, von der das Gelingen eines narrativen Interviews abhangt. [5]
Weniger ausfuhrlich, vielmehr mit Blick auf allgemeine Merkmale, beschaftigt sich BRUSEMEISTER mit den Verfahren der Grounded Theory, der ethnomethodologischen Konversationsanalyse und der objektiven Hermeneutik. Die auf Barney G. GLASER und Anselm L. STRAUSS (1967) zuruckgehende Grounded Theory versucht, Forschung mit dem Ziel der Theoriegenerierung zu betreiben, das heist, dass aus den mittels einer Vielzahl an unterschiedlichen Methoden gewonnenen Daten und dem Datenvergleich eine gegenstandsbezogene Theoriekonzeption abgeleitet werden soll. BRUSEMEISTER erortert das Prozedere bei der Entwicklung einer gegenstandsbezogenen Theorie: Zunachst werden die Untersuchungseinheiten ausgewahlt, erhoben und ausgewertet (theoretisches Sampling) und die Daten in theoretische Konstrukte umgesetzt (theoretisches Kodieren). Im Anschluss werden Hypothesen entwickelt (theoretische Memos) und schlieslich die theoretischen Memos zu der Entwicklung einer Theorie sortiert (theoretisches Sortieren). Abschliesend wird die Theorie fur eine Publikation zusammengefasst (theoretisches Schreiben). Die Grounded Theory ist fur BRUSEMEISTER aufgrund des Methodenpluralismus, des angestrebten Datenvergleichs, der grosen Datenbasis und dem Anliegen der gegenstandsbezogenen Theoriegenerierung das umfassendste Verfahren der qualitativen Sozialforschung. [6]
Die ethnomethodologische Konversationsanalyse wurde in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA von Harvey SACKS (1990) begrundet und ist die grundlegende Forschungsmethode fur den Theorieansatz der Ethnomethodologie. Konversationsanalytiker bemuhen sich herauszufinden, wie Akteure Gesprache gestalten und im Verlauf einer Interaktion versuchen, sich und ihrem Gegenuber den Sinn und die Bedeutung ihres Denkens und Handelns verstehbar zu machen. Dabei wird bei der Analyse nicht nur darauf geachtet, was gesagt wird, sondern auch wie dies geschieht. Die Konversationsanalyse ist ein reines Auswertungsverfahren, welches im Prinzip alle Arten von Gesprach (Telefongesprache, Unterhaltungen im Fernsehen, Gesprache auf der Strase, Tischgesprache etc.) untersuchen kann. Das Vorgehen einer ethnomethodologischen Konversationsanalyse wird am Beispiel von Jorg R. BERGMANNs Analyse eines Feuerwehrnotrufs (BERGMANN 1993) anschaulich gemacht. Mittels dieses Beispiels wird die Bedeutung der Kontextualitat einer Auserung und des typisierenden Wissensbestandes fur das gegenseitige Verstehen besonders verdeutlicht. [7]
Der Begriff objektive Hermeneutik bezeichnet ein Verfahren zur Rekonstruktion objektiver Bedeutungsstrukturen von Texten und geht auf die Arbeit von Ulrich OEVERMANN (1989) zuruck. Die objektive Hermeneutik ist - ahnlich wie die ethnomethodologische Konversationsanalyse - ein reines Auswertungsverfahren, mittels dessen man ein breites Spektrum von Daten untersuchen kann, vorausgesetzt die Daten liegen in Textform vor. BRUSEMEISTER veranschaulicht die Vorgehensweise einer Textanalyse im Sinne der objektiven Hermeneutik, in dem er Teile eines narrativen Interviews auswertet, welches Wolfram FISCHER-ROSENTHAL (1996) zum Thema "Traumatisierte Lebensverlaufe in Israel" fuhrte. Dabei werden sowohl sequentielle biographische Daten analysiert als auch die Selbstprasentation des Interviewten wahrend des Gesprachs beleuchtet. [8]
2. Fazit: Ein empfehlenswertes Einfuhrungsbuch
Es uberrascht nicht, wenn man erfahrt, dass BRUSEMEISTERs Buch ursprunglich als ein Studienbrief fur die Fernuniversitat Hagen konzipiert worden ist: Der Aufbau des Buches ist didaktisch durchdacht. Die Verfahren sind gut lesbar sowie durch zahlreiche plastische Beispiele anschaulich dargestellt. Jedes Kapitel enthalt zum Schluss sowohl eine kritische Zusammenfassung des zuvor Dargestellten als auch Hinweise auf weiterfuhrende und lesenswerte Literatur. Am Ende dieses Einfuhrungsbuches erfolgt in einem Abschlusskapitel ein resumierender Methodenvergleich, der die unterschiedlichen Verfahren mit Blick auf die zu Beginn genannten drei Ausgangsfragen nochmals zusammenfasst. Das Verfahren der Grounded Theory wird dabei resumierend als besonders geeignet zur Beantwortung der erwahnten Ausgangsfragen betrachtet. Ohne Zweifel kann uber die Auswahl der dargestellten Verfahren gestritten werden, da naturlich auch andere Methoden (beispielsweise die qualitative Inhaltsanalyse als Methode der Textanalyse) hatten gewahlt werden konnen. Dennoch ist dieses Buch - dies lasst sich als Fazit festhalten - eine empfehlenswerte Einstiegslekture fur Studienanfanger und Novizen auf dem Gebiet der qualitativen Sozialforschung. [9]
Zum Autor
Martin SPETSMANN-KUNKEL, M.A., Studium der Soziologie, Psychologie, Politischen Wissenschaft in Aachen, derzeit Promotion zum Dr. phil. In FQS findet sich eine weitere Rezension von Martin SPETSMANN-KUNKEL zu Grundlagen qualitativer Feldforschung.
Kontakt:
Martin Spetsmann-Kunkel
Uerdinger Strase 306
D-47800 Krefeld
E-Mail: [email protected]
Zitation
Spetsmann-Kunkel, Martin (2002). Rezension zu: Thomas Brusemeister (2000). Qualitative Forschung. Ein Uberblick [9 Absatze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 3(2), Art. 5, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs020252.
© 1999-2011 Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (ISSN 1438-5627)
Supported by the Institute for Qualitative Research and the Center for Digital Systems, Freie Universitat Berlin
Bergmann, Jörg R. (1993). Alarmiertes Verstehen: Kommunikation in Feuerwehrnotrufen. In Thomas Jung & Stefan Müller-Doohm (Hrsg.), "Wirklichkeit" im Deutungsprozess. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften (S.283-328). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Fischer-Rosenthal, Wolfram (1996). Strukturale Analyse biographischer Texte. In Elmar Brähler & Corinne Adler (Hrsg.), Quantitative Einzelfallanalysen und qualitative Verfahren (S.147-208). Gießen: Psychosozial-Verlag.
Glaser, Barney G. & Strauss, Anselm L. (1967). The discovery of grounded theory. Strategies for qualitative research. Chicago: Aldine (dt: Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. Bern: Huber).
Gross, Peter (1994). Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Hirschauer, Stefan (1999). Die Praxis der Fremdheit und die Minimierung von Anwesenheit. Eine Fahrstuhlfahrt. Soziale Welt, 50, 221-246.
Hitzler, Ronald & Honer, Anne (1994). Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung. In Ulrich Beck & Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften (S.307-315). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Oevermann, Ulrich (1989). Objektive Hermeneutik - Eine Methodologie soziologischer Strukturanalyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Sacks, Harvey (1990). Lectures. 1954 - 1965. Dordrecht: Kluwer.
Schütze, Fritz (1983). Biographieforschung und narratives Interview. Neue Praxis, 13, 283-293.
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Copyright Freie Universität Berlin 2002
Abstract
Thomas BRÜSEMEISTER's book Qualitative Forschung. Ein Überblick [Qualitative Research: An Overview] presents five different methods of social research: case study, narrative interview, grounded theory, ethnomethododical conversation analysis, and objective hermeneutics. These methods are so described as to make them clear and understandable for university entrants and lay people in the area of qualitative social research.
URN: urn:nbn:de:0114-fqs020252
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