Key-words: emotions, theatricality, semiotics, Enlightenment, Denis Diderot, cultural studies
1. Lesbarkeit von Emotionen: eine Annäherung an den "affective turn"
Gefühle gehören zu unserer Alltagserfahrung. Würden wir handeln, Entscheidungen treffen, Urteile fällen ohne Begehrungsvermögen, ohne emotionale Vorstellungen, ohne affektive Wertung? Was wir leisten, entspringt unserer Fähigkeit, zu wünschen, zu meiden. Wir streben danach, unsere mit Lust assoziierten Vorstellungen zu verwirklichen, während uns, was Unlust bewirkt, widerstrebt. In unserem Verhältnis zur Welt, zu Mitmenschen, ja zu uns selbst spielen emotionale Reaktionen eine wichtige Rolle. Ihre Bedeutung für rationale, kognitive Prozesse ist uns bewusster denn je (vgl. Damasio 1994, Damasio 2013); was wir in den verschiedensten Situationen erleben, betrachten wir heute als das Resultat eines komplexen Zusammenspiels von Emotionalität und Rationalität (Ganthaler, Neumaier, Zecha 2009).
Schon der Begriff zeigt, es handelt sich bei Emotionen nicht um statische Phänomene, vielmehr um relationale, dynamische Prozesse. Gefühle sind keine Zustände, sondern Regungen, Gemütsbewegungen, zu deren Bestimmung viele biologische und kulturelle, individuelle und soziale Faktoren beitragen (RöttgerRössler 2002). Ihr oft flüchtiger und gemischter Charakter macht sie "als Objekt der Wissenschaft in einem neuzeitlichen Sinne suspekt" (Michel 2005: 4). Umso schwieriger ist eine befriedigende Definition und Begriffsklärung. Die Erkundung der Emotionen verlangt deshalb, wie kaum ein anderes Forschungsfeld, die gemeinsame Anstrengung und Zusammenarbeit verschiedener Wissenschaftsdisziplinen. Der Komplexität des Phänomens wird nur gerecht, wer den Dialog über die Grenzen von Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften pflegt und die Vielheit gleichberechtigter Perspektiven im Auge behält. Die interdisziplinäre Annäherung an das Thema ermöglicht eine fruchtbare Konfrontation verschiedener Ansätze, die der Emotionsforschung neue Impulse verleiht.
Doch gleichzeitig möchte ich dafür plädieren, den spezifischen Ansatz der einzelnen Fachrichtungen zu profilieren in der Absicht, das Gespräch über die Wissenschaftsgrenzen hinweg zu suchen, und dies im Wissen um die Stärken und Schwächen, Chancen und Gefahren der verwendeten Theorien und angewandten Methoden. Wer sich der je eigenen disziplinären Kompetenzen bewusst ist, wird von einem Vergleich profitieren, wird erkennen, inwiefern die Kenntnisnahme anderer Modelle, Konzepte, Verfahren das eigene disziplinspezifische Wissen und die erprobten Forschungsmethoden entwickeln, erweitern, schärfen hilft. Biologie, Neurowissenschaften, Philosophie, Geschichtswissenschaften, Psychologie, Ethnologie, Soziologie - sie alle haben aufgrund ihrer Erkenntnisinteressen und ihres speziellen Gesichtspunktes einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis der vielschichtigen Natur und Fähigkeiten der Emotionen zu leisten. Fächerübergreifende Fragestellungen, wie jene nach der Verfasstheit von Gefühlen, welche die Auseinandersetzung mit verschiedenen Arbeitsweisen fördern und zur kritischen Selbstreflexion der Forschenden führen, verdienen unterstützt zu werden. Die Entwicklung einer eigentlich "interdisziplinären Methode" oder "interdisziplinären Theoriebildung"1 ist hingegen ein problematisches Unterfangen und birgt das Risiko, durch die Kombination nicht kompatibler Vorgehensweisen die theoretische Kohärenz und methodische Stringenz der in den Einzelwissenschaften betriebenen Forschung aufs Spiel zu setzten.
Wer sich mit Emotionen beschäftigt, sieht sich immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob diese angeboren oder erworben und geformt seien, ob es sich um anthropologische Grundmuster, universalgültige neuro-physiologische Prozesse oder um kulturspezifische, sozio-historisch veränderbare Konventionen handle (vgl. Michel 2005). Sind Emotionen auf Affektprogramme zurückzuführen? Haben wir es mit kulturübergreifenden Vorgängen zu tun oder haben sich die Gefühle im Laufe des Zivilisationsprozesses ausdifferenziert? Aufgrund der Komplexität und Dynamik emotionaler Phänomene werden wir kaum einfache Antworten auf diese Fragen erwarten dürfen.
Hoffen dürfen wir jedoch, dass wir etwas über Emotionen erfahren, wenn wir uns anschicken, diese in einem klar umgrenzten Bereich aufzuzeichnen, zu beschreiben und zu deuten, wenn wir uns zum Beispiel fragen, ob und dank welcher Zugänge wir im Stande sind, Gefühle zu "lesen" und zu interpretieren. Eine solche Problemstellung postuliert, dass Emotionen im Sinne von semiotischen Prozessen analysiert und verstanden werden können. Fühlen ist - dieser Arbeitshypothese zufolge - ein immer schon vermittelter und mitteilender Vorgang, der die Produktion und Rezeption, den Aus- und den Eindruck, die Dar- und Vorstellung von Gefühlen einschliesst. Unter dem Aspekt der Medialität betrachtet, wird deutlich, dass sich die Emotionsforschung einem Repräsentations-, Kommunikationsund Interpretationsproblem gegenüber gestellt sieht.
2. Medialität und Theatralität von Emotionen
Es wundert daher nicht, dass die Literaturwissenschaft, insbesondere die Theaterwissenschaft beansprucht mitzureden, wenn die Analyse von Emotionen zur Debatte steht. Wir meinen, Theaterwissenschafter halten sich zu recht für Experten auf diesem Forschungsgebiet; und sie tun dies nicht allein im Bewusstsein, dass Emotionen im Theater - zumindest in der abendländischen Tradition - eine Schlüsselrolle spielen. Sie tun es auch aus der Einsicht heraus, Gefühle haben und manifestieren eine dramatische Struktur. Doris Kolesch legt überzeugend dar, unter Berufung auf Schriften von Ronald de Sousa, dass eine am Theater orientierte Perspektive "die Gemachtheit, die Inszeniertheit, ja die Aufführung von Emotionen zu thematisieren erlaubt" (Kolesch 2007: 13). Theatralität gehört dieser Ansicht nach wesentlich zu unseren Gefühlen. Unsere Gefühle sind erleb- und lesbar dank ihrer Inszenierbarkeit. Und so sind sie aufs engste verknüpft mit bestimmten, historisch geprägten Theaterkulturen, Theaterdiskursen und Theaterpraxis.
In der europäischen Kulturgeschichte ist es das 18. Jahrhundert , das den Affekten und Gefühlen2, den Emotionen und Leidenschaften einen hohen Stellenwert und eine besondere Aufmerksamkeit schenkte (Engelen 2007: 7). Die Epoche der Aufklärung ist auch bekannt als Periode der Empfindsamkeit, in welcher die verschiedensten Künste - Malerei, Bildhauerei, Musik, Literatur - das Verhältnis von Emotionalität und Rationalität reflektierten. Interessanterweise wandten sich Maler, Bildhauer, Romanschreiber und Dichter dem Theater und vornehmlich der Schauspielkunst zu, sobald es um die Darstellung und Vermittlung von Gefühlen ging. Als ob es bei der Repräsentation von Gefühlen immer schon um eine zur Schau-Stellung ginge, orientierte man sich am Schau-Spiel, an der Schauspieltheorie wie auch an der Schauspielpraxis. Im Bewusstsein der Grenzen der klassischen Rhetorik und ihrer sprachlichen Mittel wurde den Schriftstellern, den bildenden Künstlern, aber auch Juristen und Priestern empfohlen, sich die Schauspieler zum Vorbild zu nehmen, sobald sie sich den Ausdruck und die Erzeugung von Emotionen und Leidenschaften zur Aufgabe machten.
In England war es der Schauspieler David Garrick, der bekannt war für die Entwicklung und Beherrschung einer Vielfalt von mimischen und gestischen Ausdrucksmöglichkeiten bei der Darstellung von Gefühlen. In der Absicht, den Betrachter emotional zu bewegen, nahmen sich viele Maler Garricks Spielweise zum Vorbild. Im Bereich des Gefühlsausdrucks entstand so in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine enge Wechselbeziehung von Malerei, Rhetorik und Schauspielkunst (Vogel 2000, 2001). Gleichzeitig entstand in England die Mode des empfindsamen Romans; Vertreter dieser Gattung wie Samuel Richardson, dessen Werke (Pamela, 1740; Clarissa, 1747/48) u. a. in Denis Diderot einen grossen Bewunderer fanden, wetteiferten mit der Anschaulichkeit und der Dramatik des Theaters und suchten ihre Leser in einer Weise zu berühren und zu einer emotionalen Lektürehaltung zu bewegen, die dem wirkungsästhetischen Ideal des Theaters nachempfunden war (Korte 2000: 143-145 und 151-152).
Das Interesse, welches der Schauspielkunst entgegengebracht wurde, sobald es um die Nachahmung, die Produktion und Rezeption von Gefühlen ging, erklärt sich aus der Tatsache, dass Affekte und Emotionen an sich als körperliche Bewegungen, als physische Expressionen verstanden wurden. Mit anderen Worten: Emotionen sind wesentlich motorischer Ausdruck, sie manifestieren sich durch die bebende Stimme, den bewegten Körper und teilen sich uns in Form einer nonverbalen Kommunikation mit. Eine Kunstart wie diejenige des Schauspielers, die die physische Präsenz und damit die äussere Gestalt des Schauspielers auf der Bühne zur Voraussetzung und zum Instrument hat, eignet sich vorzüglich, Gefühle nachzuahmen und nachzuempfinden, zu verstehen und zu vermitteln. Neben der Möglichkeit, Emotionen sprachlich auszudrücken, über Gefühle zu reden, hat der talentierte Schauspieler die Fähigkeit, diese durch seine Gestik und Mimik wiederzugeben und im Zuschauer hervorzurufen. Die Körpersprache des Schau - spielers - seine Gebärden, Gesten, Haltungen und Tonlage - erlauben die Imitation und Repräsentation, das Entziffern und Wecken von grossen Leidenschaften, aber auch von kleinsten Gemütsregungen. Die Zeichen des Körpers - so die vorherrschende Meinung - ermöglichen einen anscheinend unmittelbaren Ausdruck von Stimmungen und die direkte Wiedergabe von Gefühlszuständen. Die nicht verbalen emotionalen Regungen übersetzen sich verständlicher und wirklichkeitsgetreuer in die visuelle Semiotik des Körpers, welche der Schauspieler als komplexes Zeichensystem einzusetzen vermag.
Im 18. Jahrhundert bilden, entwickeln und verfeinern sich deshalb Schauspielpraxis, Körper-, Leidenschafts- und Theatersemiotik in einem gegenseitigen Austausch und Wettstreit, an dem sich nicht nur Kunsttheorien, sondern auch verschiedenste Wissenschaftsdiskurse wie Medizin, Moraltheologie, Philosophie, Rhetorik und - ganz bedeutend für diese Periode - Physiognomik und Pathognomik - beteiligten. Gerade Georg Christoph Lichtenberg, der Verfechter der Pathognomik, sprach explizit von der "Semiotik der Affekte[n]" und von den "natürlichen Zeichen der Gemütsbewegungen" und versuchte, dem transitorischen, vorübergehenden Charakter der Emotionen Rechnung zu tragen (Lichtenberg 1972: 264). Die bewegte Körpersprache des Schauspielers, d. h. die einstudierten Zeichen seines Mienenspiels, seiner Körperattitüden und Bewegungen im Bühnenraum, scheinen zusammen mit erprobten Mitteln seiner Stimme dazu bestimmt, Empfindungen und Gemütsbewegungen zum emotional verständlichen, sinnvollen Ereignis auf der Bühne und im Zuschauerraum zu machen.
3. Darstellung und Vermittlung von Emotionen zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit
In der empfindsamen Phase der Aufklärung wurden nicht nur die Emotionalität sowie die eloquentia corporis stark aufgewertet, gleichzeitig wurde versucht, die Körpersprache von zur Konvention erstarrten Attitüden und Pathosformeln zu befreien und die kodifizierten Affektdarstellungen zu überwinden hin zu einer als natürlich betrachteten Darstellungsweise der Gefühle. Obgleich Charles Le Bruns kunsttheoretische Abhandlung Conférence sur l'expression générale et particulière aus dem Jahr 1668 auch im 18. Jahrhundert einen starken Einfluss insbesondere auf die bildenden Künste ausübte, so versuchten viele Theoretiker und Künstler, sich von dieser zur Norm stilisierten Sprache der Leidenschaften zu lösen, um die als künstlich und akademisch empfundenen Ausdrucksweisen weiterzuentwickeln und die fixierten Typen zu erweitern, in der steten Sorge um eine authentisch wirkende expression des passions. Zudem galt es, nicht allein das Ausdruckspotential des Gesichts, sondern den ganzen Körper, verstanden als Resonanzraum, für die Künste nutzbar zu machen. Schauspiel, Tanz, Pantomime sollten eine wichtige Rolle spielen beim Versuch, Emotionen und Leidenschaften in grösster Nähe zur Wirklichkeit darzustellen und konse - quenterweise auch gemischte Gefühle und sich schnell wandelnde, schwer fassbare Gemütsregungen auf "natürliche" Art auszudrücken.
In diesem Kontext müssen wir Denis Diderots (1713-1784) Schriften zum Theater lesen. Diderot hat sowohl als Autor wie als Theoretiker an den Reformen des aufklärerischen Theaters einen wesentlichen Anteil. Obschon seine Theaterstücke - Le Fils naturel (1757) und Le Père de famille (1758) - keinen grossen Erfolg hatten, belebten seine theoretischen Betrachtungen, die sehr eng mit den Stücken verbunden waren - die Entretiens sur le Fils naturel (1757) und der Discours sur la poésie dramatique (1758) - die zeitgenössische Debatte über Theaterkunst und Schauspielpraxis. Während seine eigenen Dramen noch unter dem Einfluss der Einfühlungstheorie, die gerne von der Rhetorik auf die Schauspielkunst übertragen wurde, standen, distanziert sich Diderot im Paradox über den Schauspieler deutlich vom Konzept eines Spiels aus Empfindsamkeit und Einfühlung3. Beinahe zehn Jahre lang, von den ersten Entwürfen im Jahr 1769 bis zu den letzten Überarbeitungen 1778, schreibt Diderot am erst 1830, also posthum veröffentlichten Dialog Paradoxe sur le comédien und verteidigt immer klarer denjenigen Akteur, der mit Kopf und Überlegung spielt. Nur dieser sei fähig, bei jeder Aufführung vollkommen überzeugend, konstant und einheitlich seine Rolle zu interpretieren, wohingegen der Empfindsame unberechenbar und uneinheitlich spiele.
Auch Diderot nimmt sich Schauspieler und Schauspielerinnen seiner Zeit zum Vorbild. Vor allem die Kunst von Mademoiselle Clairon steht modellhaft für die Praxis eines nüchternen, reflektierten Spiels ohne Emotionen. Auf der Bühne fühlt der Schauspieler nicht, identifiziert sich nicht mit seiner Rolle, er gibt vielmehr die äusseren Zeichen des empfindsamen, fühlenden Menschen wieder, nachdem er diese betrachtet, studiert, eingeübt hat. Der geniale Schauspieler begnügt sich zudem nicht mit der überlegten, kühlen Nachahmung von Gefühlen, er entwickelt seine Rolle weiter, indem er sie nach einem ideellen Modell vervollkommnet. Was er in der realen Welt, auf der Strasse und in Gesellschaft, beobachtet hat, überhöht und formt er zu einer mustergültigen Vorstellung, die allein seiner Einbildungskraft und dem Willen zur Verallgemeinerung entspringt. Ausgehend von der Rolle, die er darzustellen hat, und von den Observationen der menschlichen Natur, erschafft der grosse Schauspieler seine Idealfigur und ist bestrebt, sich allabendlich, unabhängig von seinem individuellen Charakter auf der Höhe dieses Modells zu bewegen. Beobachtungsgabe, Urteilskraft, Imagination und Gedächtnis sind die Fähigkeiten, die den genialen vom mittelmässigen, einfühlsamen Akteur unterscheiden. Doch es ist gerade dieser Verstandesschauspieler, der über sich hinausgewachsen ist, der klar trennt zwischen seiner Person und seiner Rolle, seiner Rolle und seiner idealen Theaterfigur, der wie kein anderer im Stande ist, die Zuschauer zu Tränen zu rühren.
Um diese Wirkung zu erzielen, bringt der Schauspieler seinen ganzen Körper ein. Gerade seine Gebärdensprache, stummes Mienenspiel und die Modulationen seiner Stimme beeindrucken den Betrachter. Schon im Discours de la poésie dramatique plädierte Diderot für den häufigen Einsatz der Pantomime. So oft wie immer möglich sollten an Stelle von Worten Gesten "sprechen"; insbesondere beim Ausdruck von Gefühlen sind den sprachlichen Zeichen die non verbalen vorzuziehen. Im Namen einer grösseren Realitätsnähe und Natürlichkeit des Schauspiels verlangt Diderot, die Dialoge auf der Bühne durch Mimik und Gestik zu ersetzen mit der Absicht, im Zuschauer starke Gemütsbewegungen zu wecken, so dass sich dieser mit den Figuren und Handlungen auf der Bühne identifiziert. Ist das bewusst kalkulierte und kontrollierte Spiel des Mimen überzeugend, so nimmt der Zuschauer jene Emotionen als real wahr, die auf der Bühne pure Illusion und bloss vorgetäuscht sind. Dass das Theaterpublikum die vorgespielten Affekte als echt empfindet, gehört, nach Ansicht Diderots, zum Ziel und Paradox der Schauspielkunst. Und so wird das Theater zum Ort und Medium eines unmittelbaren Erlebens von Liebe und Hass, Freude und Traurigkeit, Schrecken und Mitleid.
4. Die Aufführung von Emotionen als Kulturleistung
Diderots Ausführungen sind für die Thematik "Gefühle lesen" von Bedeutung, da sein Paradox über den Schauspieler von der Annahme einer natürlichen Theatralität der Empfindungen ausgeht, welche von der Theaterkunst vorausgesetzt und von der Theaterpraxis genutzt wird. Parallel hierzu unterscheidet Diderot zwischen einer natürlichen und einer vorgetäuschten Sensibilität. Was wäre die Kunst des Schauspielers, spielten wir nicht alle in unserem Alltag, mehr oder weniger bewusst, viele verschiedene Rollen. Theater spielen - d. h. Haltungen kopieren, Personen darstellen oder nachahmen, Handlungen und Gefühle fingieren - gehört zu unseren alltäglichen Erfahrungen und ist eine der wichtigsten Kulturtechniken. Auf der Strasse und in den Salons, in der öffentlichen wie in der privaten Sphäre, sind wir abwechslungsweise und oft kaum unterscheidbar Zuschauer und Schauspieler, nehmen das Auftreten und die Ausdrucksweisen unserer Mitmenschen wahr, schlüpfen in Rollen, tragen Masken, ahmen Attitüden nach, probieren Stimmlagen aus, sind empfänglich für Emotionen. In stets variierenden Konstellationen und Szenarien sind wir bald Akteure, bald Publikum, interagieren und manipulieren, betrachten und fühlen, indem wir am Spiel teilnehmen. Das Gesellschaftsspiel als Vorlage für die Schauspielkunst erlaubt es, Theaterfiguren zu schaffen, die natürlich scheinen und deren kunstvolles Spiel wiederum auf die Gesellschaft zurückwirkt und sie beeinflusst.
Doch Theater und Leben spiegeln sich nicht einfach dank eines omnipräsenten theatralen Dispositivs, sie bilden und konturieren sich auch wechselseitig, verfeinern und vervollkommnen ihre Ausdrucksformen und tragen bei zur Konstitution und permanenten Selbstvergewisserung sowohl von subjektiver wie auch gesellschaftlicher Identität. Das Theater bringt die diffus und ungeordnet waltende, individuelle wie auch kollektive Repräsentationskraft ins Bewusstsein aller am Spiel beteiligten Akteure und trägt wesentlich dazu bei, die eigene Person und die sozialen Aufgaben zu entwickeln, zu ordnen, zu verstehen und zu beherrschen. Dass das Theater auch eine Erziehungsmaschinerie ist, oder sein kann, davon war gerade das 18. Jahrhundert tief überzeugt. Die Einführung einer neuen dramatischen Gattung, nämlich des bürgerlichen Trauerspiels, ist auch der Versuch, das bürgerliche Individuum aufzuwerten, zu emanzipieren und eine ihm entsprechende (Theater-) Kultur zu schaffen.
Wichtig ist mir die Tatsache, dass Diderots Versuch über die Schauspielkunst auf einem Stufenkonzept von Theatralität beruht; sein Paradox unterscheidet klar getrennte, hierarchisch geordnete Formen von theatralen Äusserungen. Ganz unten auf der Stufenleiter platziert er die alltägliche, spontane, vermeintlich "natürliche" Schauspielerei, welche - bei genauerer Betrachtung - immer schon das Produkt von Nachahmungseffekten, von Konventionen und Vorschriften ist. Sie ist nur insofern "natürlich", als sie nicht im Dienste eines in sich geschlossenen Theaterstücks, das zur Aufführung gebracht werden braucht, steht, und daher uneinheitlich, vereinzelt und zerstreut wirkt.
Zur nächst höheren Stufe gehört das Theaterspiel des schlechten oder, im besten Fall, mittelmässigen Akteurs, der die theatralen Szenen des gewöhnlichen Lebens beobachtet, einstudiert und auf der Bühne unreflektiert zur Darstellung bringt. Ob ästhetisch überzeugend oder nicht, Theater als Kunstform ist unweigerlich Theater über Theater. Im Unterschied zur Bühne der Welt geht es jedoch um eine Weise des Schauspielens, die im Rahmen einer bestimmten Inszenierung einheitlich, harmonisch abgestimmt und aufs Ganze einer Theaterproduktion ausgerichtet ist. Auf dieser Stufe agiert der einfühlsame Schauspieler, der sich mit seiner Figur identifiziert, der die Gefühle der ihm zugedachten Person nachempfindet und der sich auf der Bühne leidenschaftlich begeistert und trauert, der Tränen weint und lacht, der im Enthusiasmus die Kontrolle über sein Spiel zu verlieren riskiert und die Tendenz hat, sich selber, seinen individuellen Charakter darzustellen.
Auf die höchste Stufe von Theatralität versucht der geniale Schauspieler zu gelangen, indem er sich von seiner Person, seinem Charakter distanziert, um kühl und emotionslos nach dem idealen Modell zu spielen, das er noch vor der Repräsentation imaginiert und abstrahiert hat, ausgehend von seiner Rolle und den Vorbildern, die ihm die Bühne des realen Lebens liefert. Im Gegensatz zum mittelmässigen Schauspieler kopiert er nicht direkt, was er vorgeführt sieht, er wählt aus der Vielzahl der theatralen Elemente jene aus, die für die Erzeugung seiner Theaterschöpfung geeignet sind, und fügt sie zu einem neuen, gänzlich artifiziellen Geschöpf zusammen - Diderot spricht von einer überdimensional grossen Puppe. Dank dieses Verständnisses einer gesteigerten, kunstvollen Theatralität vermag der Schauspieler konstant zu spielen und die Zuschauer im Parterre zu überzeugen, zu rühren und sie über sich hinauszuführen, auf dass sie an einer Vor- und Darstellung partizipieren, die hoch artifiziell ist und trotzdem wahr scheint. Einbildungs- und Urteilskraft sind die Fähigkeiten, die es erlauben, die Schauspielpraxis zu einer Kunstform zu entwickeln, welche auch ein Zivilisationsprogramm zu sein beansprucht.
Die Übergänge zwischen den verschiedenen Stufen theatraler Handlungen, die Leben und Kunst durchdringen, sind sicher fliessender als es Diderots Konzept suggeriert. Doch sein Modell hat den Vorzug, das weitverbreitete, aber diffuse Phänomen der in Szene gesetzten Verhaltensweisen in Kategorien einzuteilen und dank der pyramidalen Gliederung etwas in den Griff zu bekommen. Gleiches gilt für den Bereich der Emotionalität. Wenn Diderot die verschiedenen Formen von Inszeniertheit mit unterschiedlichen Weisen von Sensibilität assoziiert, so strebt er danach, das Kontinuum, das Emotionen sind, zu artikulieren, zu "semiotisieren". In Analogie zu den Niveaus von Theatralität unterteilt er den Bereich der Sensibilität und spricht von natürlicher und konventioneller, von spontaner und reflektierter, von erlebter und kopierter, ja vorgetäuschter Sensibilität. Das Theater ist der privilegierte Ort, wo die Grenzen zwischen den Kategorien von Sensibilität sichtbar, erkennbar gemacht werden, nicht nur weil sie benannt, in Worte übersetzt werden, sondern weil sie gezeigt werden, weil sie - vermittelt über die Gebärdensprache, über das Mienenspiel, welche der grosse Schauspieler berechnend und überlegt einzusetzen versteht - unmittelbar erlebbar sind. Die oft unbewusst und unscharf wahrgenommenen Empfindungen kristallisieren sich auf der Bühne, so dass der Zuschauer, was ihn im Alltag vage bewegt, als bestimmte, benennbare Gefühle empfindet und begreift. Im Theater spiegeln und perfektionieren sich die Emotionen von Publikum und Schauspieler gegenseitig; über das Medium der theatralen Emotion wird der empfindsame Zuschauer zum mitfühlenden und gleichzeitig aufgeklärten Menschen, der Gefühle zu trennen und zu beurteilen lernt. Speziell in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zielt die Ausdifferenzierung und Steigerung der Empfindsamkeit auf die Ausbildung der für das gesellschaftliche Leben als wesentlich betrachteten moralischen Gefühle wie Mitgefühl und Sympathie.
5. Von emotionalen Regungen zur Gestaltung und Erkenntnis der Gefühle
Diderots Paradox geht von der Annahme einer dem Menschen natürlichen Disposition zu fühlen aus. Empfindungsfähigkeit gehört zur menschlichen Natur. Doch diese Fähigkeit muss geweckt, geformt, entwickelt werden. Wir mögen potentiell alle empfindsam sein, doch erst die Ausbildung dieser "angeborenen", latenten Haltung macht aus uns fühlende Individuen, die ihre Gefühle entschlüsseln und mitteilen können, die ihre Emotionen willentlich produzieren, manipulieren und in der Interaktion mit Mitmenschen ins Spiel zu bringen vermögen. Der Prozess der Herausbildung und Beherrschung der Gefühle ist aber immer schon, soweit wir auch in der Entwicklungsgeschichte zurückzugehen versuchen, ein von nicht selten konfliktreichen Handlungen strukturierter. In stets wechselnden, verteilten Rollen beobachten und agieren wir; wir ahmen nach, parodieren, täuschen; wir lassen uns berühren, bewegen, fühlen uns ein und mit. Würden wir unsere Gefühle verstehen, wenn wir sie nicht im Schau-Spiel - ob ernst oder nicht - ausprobiert, aufgeführt und verfeinert hätten? So universal unsere Affektdisposition sein mag, sie ist geprägt von gesellschaftlichen Mustern, kulturellen Modellen und Techniken, von semiotischen Konventionen, ästhetischen Urteilen und ethischen Normen. Insofern sie eine dramatische Struktur haben, sind Affekte das Ergebnis sozialer Interaktion und eines verinnerlichten, kulturspezifischen Habitus. Das bedeutet nicht, dass wir ein transkulturelles Verständnis von Empfindungen ausschliessen brauchen; aber es heisst, dass dieses zumindest nicht selbstverständlich ist, denn unsere je eigenen kulturellen Orientierungen und historisch gewachsenen Konstruktionen bestimmen die Art und Weise, wie wir emotionale Prozesse inszenieren und wahrnehmen, wie wir Gefühle lesen.
Theatricality of Emotions. The Example of Denis Diderots' Paradoxe sur le comédien
The last twenty years have seen a growing interest in the emotions across the academy and the "affective turn" in critical theory. Biological and social sciences bring different perspectives and methodologies to understanding affective experience. Among the disciplines, the arts and humanities, and especially the theatre studies, reveal that emotions manifest a dramatic structure. The theatre and the art of the actor are a privileged way to represent affective experiences and to analyse their expressions. In Europe, it is the Age of Enlightenment that understood the close connection between theatre and emotions. In the 18th century, drama practice and the semiotics of body and passion developed in a mutual exchange and competition, on which not only art theories but also various scientific discourses such as medicine, moral theology, philosophy, rhetoric and - most important for this period - physiognomy and pathognomy - were involved. Georg Christoph Lichtenberg, the advocate of pathognomy, spoke explicitly of the "semiotics of affects". The aim of this article is to show that Denis Diderot's Paradoxe sur le comédien helps us "reading" emotions. The theater reflects the emotions of the audience and actors perfecting each other; through the medium of theatrical emotion the sensitive viewers will learn to compassionate, to separate and judge the different emotions.
1 Als Beispiel eines solchen Unternehmens, siehe das Forschungsprojekt der FUB "Languages of Emotion", www.loe.fu-berlin.de/zentrum/profil/index [18.04.2014].
2 Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff "Gefühl" erst im 18. Jahrhundert verwendet und ist dem Französischen, bzw. Englischen "sentiment" entlehnt.
3 Damit wendet er sich ab von früheren Positionen, die u. a. von Rémond de Sainte -Albine (Le Comédien, 1747) und Jean Baptiste Dubos (Réflexions critiques sur la poésie et la peinture, 1719) vertreten wurden.
Bibliografie
Damasio 1994: Antonio R. Damasio, Descartes' Error. Emotion, Reason, and Human Brain, New York, Putnam.
Damasio 2013: Antonio R. Damasio, Der Spinoza-Effekt: wie Gefühle unser Leben bestimmen, Berlin, List.
Diderot 1968: Denis Diderot, OEuvres esthétiques, éd. de Paul Vernière, Paris, Garnier Frères, 1968.
Dubos 1967: Jean Baptiste Dubos, Réflexions critiques sur la poésie et la peinture, réimpr. Genève, Slatkine.
Engelen 2007: Eva-Maria Engelen, Gefühle, Stuttgart, Philipp Reclam jun.
Ganthaler, Neumaier, Zecha 2009: Heinrich Ganthaler, Otto Neumaier, Gerhard Zecha (Hg.), Rationalität und Emotionalität, Wien/Berlin, LIT Verlag, "Austria Forschung und Wissenschaft - Philosophie", Bd. 9.
Michel 2005: Paul Michel, "Emotionen. Erscheinungsformen - Diskursfelder - Beeinflussung. Eine Bestandesaufnahme des Herausgebers", in: Unmitte(i)lbarkeit. Gestaltungen und Lesbarkeit von Emotionen, Zürich, Pano Verlag, Schriften zur Symbolforschung, Bd. 15.
Kolesch 2007: Doris Kolesch, "Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft. Perspektiven einer theaterwissenschaftlichen Emotionsforschung", in: Forum Modernes Theater, Bd. 22/1, S. 7-15.
Korte 2000: Barbara Korte, "Theatralität der Emotionen. Zur Körpersprache im englischen Roman des 18. Jahrhunderts", in: Claudia Benthien, Anne Fleig, Ingrid Kasten, Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln/Weimar/Wien, Böhlau Verlag, S. 141-155.
Lichtenberg 1972: Georg Christoph Lichtenberg, "Über Physiognomik: Wider die Physiognomen", in: Schriften und Briefe, Bd.3, München, Carl Hanser Verlag.
Röttger-Rössler 2002: Birgitt Röttger-Rössler, "Emotion und Kultur: Einige Grundfragen", in: Zeitschrift für Ethnologie, Bd, 127, Heft 2, S. 147-162.
Thommen, Vogel 2000: Evelyne Thommen, Christina Vogel (éds.), Lire les passions, Bern, Peter Lang, "Tausch", Bd. 13.
Vogel 2000 : Matthias Vogel, "Vom Porträtisten zum Maler der Leidenschaften. Der Fall George Romneys", in: Evelyne Thommen, Christina Vogel (éds.), Lire les passions, Bern, Peter Lang, "Tausch", Bd. 13, S. 17-46.
Vogel 2001: Matthias Vogel, Johann Heinrich Füssli - Darsteller der Leidenschaften, Zürich, Zurich InterPublishers.
Christina VOGEL*
Universität Zürich , Österreich .
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Copyright "A. Philippide" Institute of Romanian Philology, "A. Philippide" Cultural Association 2016
Abstract
The last twenty years have seen a growing interest in the emotions across the academy and the "affective turn" in critical theory. Biological and social sciences bring different perspectives and methodologies to understanding affective experience. Among the disciplines, the arts and humanities, and especially the theatre studies, reveal that emotions manifest a dramatic structure. The theatre and the art of the actor are a privileged way to represent affective experiences and to analyse their expressions. In Europe, it is the Age of Enlightenment that understood the close connection between theatre and emotions. In the 18th century, drama practice and the semiotics of body and passion developed in a mutual exchange and competition, on which not only art theories but also various scientific discourses such as medicine, moral theology, philosophy, rhetoric and - most important for this period - physiognomy and pathognomy - were involved. Georg Christoph Lichtenberg, the advocate of pathognomy, spoke explicitly of the "semiotics of affects". The aim of this article is to show that Denis Diderot's Paradoxe sur le comédien helps us "reading" emotions. The theater reflects the emotions of the audience and actors perfecting each other; through the medium of theatrical emotion the sensitive viewers will learn to compassionate, to separate and judge the different emotions.
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