Content area
Full Text
Der Weg des Vergessens in Vergils neunter Ekloge1
Den Beginn der neunten Ekloge2 Vergils bildet die ungeduldige Frage des jungen Lycidas : Quo te, Moeri, pedes? an, quo via ducit, in urbem?(«Wohin tragen dich, Moeris, deine Füße? Etwa der Straße nach in die Stadt?») - Vor einer Betrachtung der Antwort hierauf sei ein kurzer Umweg genommen: Das zehnte und letzte der zehn wohl in den Jahren 42 bis 35 vor Christus entstandenen3 Gedichte der Bucolica ist Gallus und dessen Lycoris gewidmet und nimmt eine unbestrittene4 Sonderstellung ein. Wollte man infolgedessen die Grappe der ersten neun EkIogen als weitgehend homogen betrachten, so bestätigte sich diese Vermutung darin, daß die Gedichte 1 und 9, die nun einen Rahmen bildeten, eine jeweils ähnliche Vorgeschichte voraussetzen5, nämlich jene Landkonfiskationen, die Octavian in den Jahren 41 und 40 vor Christus durchführte.6 Derartige histonsche Determinationen sollen jedoch im folgenden ausgeblendet werden und zugunsten einer textimmanenten Interpretation der neunten Ekloge zurücktreten. Diese ist im Gegensatz zu ihrer thematischen Schwester, der ersten Ekloge, von hermeneutischen Bemuhungen meist vernachlassigt worden. Ziel der folgenden Ausführungen ist es zu zeigen, daß Elemente, welche die Bucolica sowohl zu einem Abschluß bringen als auch über diese Gedichte hinausweisen, bereits vor der zehnten Ekloge deutlich nachzuweisen sind dem Gedicht, welches gewöhnlich mit dieser Aufgabe betraut wird.7
Asyndeta, Parenthesen und harsche Unterbrechungen durch Nebensätze bewirken eme syntaktische Zerstückelung, die im Deutschen nur annähernd nachgeahmt werden kann:
«Lykidas, da sind wir also nur mit dem Leben davongekommen, damit em Fremder uns - was wir nie befürchtet hätten - das Landgut wegnimmt und sagen kann: «Das gehört mir! Geht fort, ihr ehemaligen Bauern!»? Jetzt bnngen wir, besiegt, traung - denn das Schicksal wendet ja alles um -jenem diese - was ihm nicht gut bekommen soil! - diese Böckchen hier.»
Indes: Bei aller grammatischen Zerrissenheit stellt die Klage des Moeris über seine Enteignung in ihrer kunstvollen Gestaltung und Geschlossenheit zugleich ein harmonisches Ganzes dar.16 Mitten im Spannungsfeld zwischen den Vergangenheitstempora der Verse 2 (pervenimus) und 3 (veriti sumus) und der Zukunft, die das Verspaar 5/6 mit seiner zähneknirschenden Verwünschung17 und der noch ausstehenden Vollendung der Tätigkeit des «mittimus» evoziert, steht der nüchterne Sprechakt des vierten Verses und dessen offensichtlicher perlokutionärer18 Erfolg. Auf das alleinige Präsens der Faktizität dieser Enteignung, symmetrisch eingebettet...